Vom Rechtsbruch im Kriegsrat der Zögerlichen

Der deutsche Bundestag, dieser wohlsortierte Debattierclub zwischen moralischer Überkompensation und taktischer Verzagtheit, hat ein neues Kapitel geschrieben im dicken, ledergebundenen Wälzer deutscher Verantwortungsvermeidung: Kapitel 2398, Absatz 7, mit dem Titel „Die Unterlassene Hilfeleistung in Raketenform“. Peter Kiesewetter, einst Offizier, nun Christdemokrat mit aufrechter Stirn und dem Furor eines Staatsanwalts in der Pose des Parlamentariers, formulierte es mit juristisch anmutender Emphase: Die Nichtlieferung der Taurus-Marschflugkörper an die Ukraine sei nichts weniger als ein Verstoß gegen § 323c StGB – unterlassene Hilfeleistung. Ja, Sie haben richtig gelesen: Wer eine Rakete nicht liefert, begeht ein Delikt. Wer Kriegsgerät verweigert, verweigert Menschlichkeit. Eine ethische Raketengleichung, deren Stringenz und juristische Eleganz in etwa dem Satz des Pythagoras auf einem Feldbett gleicht: Wenn zwei Seiten nicht schießen, wird die dritte von den Russen überrollt.

In Kiesewetters Logik, die mit der Präzision eines Taurus durch den nebelverhangenen Moralkanon fliegt, offenbart sich das ganze Elend einer politischen Klasse, die das Zögern zur Doktrin und das Lavieren zur Tugend erhoben hat. Taurus sei nötig, alternativlos, ethisch geboten – kurz: christdemokratisch. Und mit welchem Furor der CDU-Generalstab nun Paragrafen fletscht, da könnte man beinahe glauben, Strauß sei auferstanden, bewaffnet mit der Bibel, dem Grundgesetz und einem Raketenkoffer. Die Bombe als Nächstenliebe, das ist der neue Soundtrack zur Zeitenwende. Kant dreht sich im Grab, aber in NATO-tauglicher Drehzahl.

Die Ethik der Explosiven – Vom moralisch aufgeladenen Sprengkopf

Man könnte meinen, in der deutschen Militärdebatte ginge es noch um Strategie, Sicherheit oder – Gott bewahre – Realpolitik. Doch weit gefehlt: Es geht um Moral. Nicht jene leise, reflektierte, sich selbst hinterfragende Sorte, sondern die plakative Auslageware im Werte-Schaufenster der Berliner Republik. Taurus ist längst kein bloßer Marschflugkörper mehr – er ist zur Projektionsfläche avanciert, zum fliegenden Gewissen Europas. Ein 500 Kilogramm schwerer Sprengkopf als Allegorie auf Mitgefühl. Humanismus mit Zielcomputer, Barmherzigkeit im Bunkerformat. Wer ihn verweigert, verweigert die Menschlichkeit – sagt Kiesewetter, sagt die CDU, sagen inzwischen auch einige Grüne, die in ihrer Wandlung von der Friedensbewegung zur Kriegsbegründung eine beeindruckende politische Flugbahn zurückgelegt haben, ganz ohne Raketentechnologie.

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Man stelle sich nur vor: Da sitzt der deutsche Kanzler mit gefurchter Stirn, von Fernsehkameras belagert wie Cäsar vor dem Rubikon, und sagt in staatsmännischem Tonfall, man müsse „verantwortungsvoll prüfen“. Was da geprüft wird, bleibt im Nebel des Kanzleramts verborgen, vielleicht ist es das Drehmoment der öffentlichen Meinung, vielleicht auch nur der Reißverschluss an Pistorius’ Einsatzjacke. In Wahrheit aber ist es die letzte Bastion der deutschen Außenpolitik: die Rhetorik der Verschleppung. Hätte man Taurus früher geliefert, so der implizite Vorwurf, lägen heute weniger Ukrainer unter Trümmern und mehr Russen unter Erde. Es ist die neue Version der alten Frage: Darf man töten, um Leben zu retten? In Deutschland lautet die Antwort traditionell: Nur, wenn ein Arbeitskreis es vorher genehmigt hat.

Sargnägel mit GPS – Warum Präzision keine Skrupel ersetzt

Natürlich, sagen die Befürworter, Taurus ist präzise. Das Wort fällt so häufig in diesen Tagen, man könnte glauben, es handele sich um ein chirurgisches Instrument. Ein Skalpell mit Reichweite. Dabei wird vergessen: Auch ein Skalpell kann töten, wenn es die falsche Hand führt. Und Taurus, dieser vielbeschworene Wunderflügel des Westens, ist eben kein moralisches Subjekt. Er unterscheidet nicht zwischen gerechter Verteidigung und imperialem Gegenschlag, sondern folgt Koordinaten. Und Koordinaten – das weiß jeder, der einmal im GPS-Schatten einer Alpenstraße stand – können irren. Wo also beginnt die Verantwortung? Beim Ziel? Beim Abschuss? Oder bei jenem feinziselierten Satzbau, mit dem man in Talkshows das Wort „Lieferung“ durch „Verantwortungsübernahme“ ersetzt?

In dieser Präzisionsdebatte steckt der ganze Wahnsinn des modernen Krieges: Als ließe sich der Schrecken durch die Genauigkeit seiner Durchführung moralisch entgiften. Man redet von Intelligenz, als säßen im Innern der Rakete Philosophen, die kurz vor dem Einschlag noch über Kant und Clausewitz debattieren. Dabei wäre es ehrlicher zu sagen: Es geht um Wirkung, nicht um Würde. Und so wird der Taurus, einst ein Produkt aus deutscher Ingenieurskunst und britischer Beteiligung, zum postheroischen Sargnagel in einem Konflikt, dessen Ursprünge weit älter sind als der Bundestagsbeschluss von letzter Woche.

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Wenn Ministerpräsidenten Völkerrecht jonglieren – Föderalismus als Waffenhändler

Besonders apart wird die Debatte, wenn sich deutsche Ministerpräsidenten zu außenpolitischen Erklärungen berufen fühlen. Man kennt das: Ein Bundesland hat ein Haushaltsloch, der Nahverkehr wankt, die Kitas streiken – aber der Ministerpräsident weiß, was die Ukraine braucht: Taurus. Niemand fragt, was Niedersachsen über Hochgeschwindigkeitsraketen denkt, doch Stephan Weil oder Michael Kretschmer stellen sich trotzdem vors Mikrofon wie einst Churchill – nur halt mit Regionalbahnanschluss. Der Föderalismus, einst Garant demokratischer Vielfalt, ist zum Open-Mic-Abend für geopolitische Laien geworden.

Und während die eigentlichen Entscheider sich in strategischem Schweigen üben, wirft man mit Völkerrechtsfloskeln um sich wie mit Kamellen am Rosenmontag. „Pflicht zur Unterstützung“, „humanitäre Verantwortung“, „Schutz der Freiheit“ – die Begriffe purzeln so zuverlässig wie das nächste Waffenpaket aus Washington. Dass Völkerrecht kein Rüstungsprospekt ist, sondern ein fragiles Netz aus Kodex, Konsens und Kontext, scheint niemanden zu stören. Hauptsache, der moralische Schaum vor dem Mund ist dichter als das Nebelfeld über Donezk.

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