Soziale Gerechtigkeit 2024

Die große Gleichheit im Schmerz

„Wir müssen etwas finden, was allen wehtut.“ Ein Satz, so schlicht und brutal, dass er in seiner Wahrhaftigkeit fast poetisch wirkt. Holger Bonin, Chef des Instituts für Höhere Studien (IHS), hat diesen Satz in die Welt entlassen, und man muss zugeben: Er hat damit den Zeitgeist getroffen. Denn was könnte sozial gerechter sein, als ein universeller Schmerz? Endlich ein Ansatz, der sicherstellt, dass wirklich niemand außen vor bleibt – nicht die alleinerziehende Mutter mit Teilzeitjob, nicht der Spitzenverdiener im Porsche, und schon gar nicht die Politiker, die das Sparpaket schnüren. Das klingt doch nach Fortschritt, oder? Spoiler: Es ist keiner.

Doch lassen wir uns nicht von Zynismus überwältigen, sondern tauchen wir ein in diese dystopische Vision einer neuen sozialen Gerechtigkeit, in der die Gesellschaft nur noch über ihre kollektiven Leiden geeint wird. Willkommen im Jahr 2024, wo der Begriff „Fairness“ neu definiert wird – und zwar mit einem Vorschlaghammer.

Schmerz als soziale Währung

Es klingt zunächst bestechend logisch: Wenn alle den Gürtel enger schnallen müssen, sind wir doch endlich gleich. Warum sollte nur eine Gruppe leiden? Warum sollten wir nur von den „Superreichen“ fordern, endlich ihre Steuertricks aufzugeben, wenn doch auch die Normalverdiener etwas beitragen könnten? Warum sollten Unternehmen stärker zur Kasse gebeten werden, wenn doch die Sozialhilfeempfänger genauso gut auf ein bisschen weniger Anspruch haben könnten? So entsteht eine Vision von sozialer Gerechtigkeit, die nicht mehr nach oben umverteilt, sondern nach unten nivelliert.

Holger Bonins Vorschlag hat dabei den Charme eines Schmerzensgeldes ohne Auszahlung. Denn seien wir ehrlich: In einer Welt, die zunehmend von sozialen Spannungen und Ungleichheiten geprägt ist, gibt es doch nichts Verbindenderes, als gemeinsam zu leiden. Vielleicht sollten wir den Schmerz direkt in den Lehrplan aufnehmen – als Unterrichtsfach „Solidarisches Büßen“.

Ein Werkzeug des gesellschaftlichen Fortschritts

Die Argumentation für ein umfassendes Sparpaket wirkt auf den ersten Blick verblüffend kohärent. Es ist ja auch dringend nötig: Die Staatskassen sind leer, die Schulden hoch, die Klimakatastrophe klopft an die Tür, und die Bevölkerung wird älter und anspruchsvoller. Da muss man Prioritäten setzen, und was könnte sinnvoller sein, als die Staatsausgaben anzugreifen? Denn, so heißt es, nur ein schlanker Staat ist ein starker Staat – eine Aussage, die genauso oft wiederholt wie selten bewiesen wurde.

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Natürlich bedeutet ein solches Sparpaket nicht, dass wir auf die wirklich großen Probleme zielen würden, etwa Steuerhinterziehung in Milliardenhöhe oder die Profite von Konzernen, die ihre Gewinne in Steueroasen verschieben. Nein, das wäre ja zu einfach. Stattdessen wird der Fokus auf jene Bereiche gelegt, die „jeden betreffen“. Zum Beispiel: höhere Mehrwertsteuern auf Lebensmittel, Kürzungen bei den Sozialleistungen, Einsparungen im Bildungssektor und eine stärkere Eigenbeteiligung im Gesundheitswesen. Denn nur so wird sichergestellt, dass der Schmerz wirklich demokratisch verteilt wird.

Vom Mythos der sozial gerechten Grausamkeit

Doch hier beginnt das Konzept, seine Maske fallen zu lassen. Denn wie gerecht kann ein System sein, das den Schmerz gleichmäßig verteilt, während die Vermögensverhältnisse so himmelweit auseinanderklaffen wie nie zuvor? Es ist wie in einem alten Märchen, nur dass die Moral verloren gegangen ist: Die Reichen verlieren vielleicht ein paar Euro mehr an Steuern, die Armen dafür ihren Zugang zur Gesundheitsversorgung. Aber hey, Hauptsache, es tut beiden weh!

Man muss sich fast fragen, ob Bonins Aussage nicht ein ironisches Meisterwerk war – eine Art absurde Performance, die die ganze Heuchelei der Sparpolitik bloßlegen sollte. Denn „etwas finden, was allen wehtut“, heißt ja im Klartext nichts anderes, als die systemische Ungerechtigkeit noch weiter zu verschärfen. Es ist, als würde man einem Marathonläufer und einem Rollstuhlfahrer die gleiche Hürde vorsetzen und das Ergebnis als fair deklarieren.

Solidarität im Schmerz

Hier zeigt sich das eigentliche Problem dieser Sparlogik: Sie ignoriert, dass nicht alle denselben Schmerz gleichermaßen empfinden. Für einen Spitzenverdiener mag eine zusätzliche Steuerlast schmerzhaft sein, aber sie verändert nicht seine Lebensrealität. Für eine Familie, die am Existenzminimum lebt, kann dieselbe Belastung jedoch existenzbedrohend sein. Der Versuch, soziale Gerechtigkeit durch universelles Leiden zu schaffen, ist nicht nur naiv, sondern auch gefährlich.

Aber vielleicht liegt hier die wahre Vision hinter Bonins Worten: eine Gesellschaft, in der Solidarität nicht mehr durch gemeinsame Ziele, sondern durch gemeinsame Entbehrungen entsteht. Eine neue Form des sozialen Zusammenhalts, die nicht auf Hoffnung, sondern auf Resignation basiert. Wenn wir schon nichts mehr verbessern können, dann können wir uns wenigstens gemeinsam verschlechtern.

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Ein Blick in die Zukunft

Wie könnte eine Welt aussehen, in der Bonins Vorschlag Realität wird? Vielleicht so: Der Mittelstand verschwindet endgültig, weil er die zusätzlichen Abgaben nicht mehr stemmen kann. Die unteren Einkommensgruppen geraten in noch tiefere Armut, während die Reichen sich mit ein paar symbolischen Opfern schmücken und weiterhin in Wohlstand baden. Doch Hauptsache, das Narrativ stimmt: „Wir haben alle gelitten.“

Die Konsequenz wäre eine Gesellschaft, die immer stärker gespalten ist, in der die Wut über die Ungleichheit wächst, während die politischen Entscheidungsträger weiterhin so tun, als hätten sie alles im Griff. Es wäre eine Welt, in der Schmerz zur neuen Währung wird – ein dystopischer Albtraum, der den Begriff der sozialen Gerechtigkeit ad absurdum führt.

Ein Hoch auf den Schmerz!

Holger Bonins Satz „Wir müssen etwas finden, was allen wehtut“ ist nicht nur ein bemerkenswerter Einblick in die Logik moderner Sparpolitik, sondern auch ein trauriger Kommentar zu unserem Verständnis von sozialer Gerechtigkeit. Wenn Schmerz wirklich die einzige Antwort auf unsere Probleme sein soll, dann haben wir als Gesellschaft versagt. Denn wahre Gerechtigkeit entsteht nicht durch Gleichheit im Leiden, sondern durch die Bereitschaft, Ungleichheiten ehrlich zu bekämpfen.

Vielleicht ist es an der Zeit, Bonins Vorschlag weiterzuentwickeln – zu einer Idee, die nicht den Schmerz, sondern die Hoffnung ins Zentrum stellt. Denn eines ist sicher: Eine Gesellschaft, die sich nur noch durch ihr gemeinsames Leid definiert, hat längst vergessen, was sie wirklich ausmacht.


Quellen und weiterführende Links

  1. Holger Bonin, IHS: „Über die Notwendigkeit von Sparpaketen“.
  2. Die Zeit: „Sparen als Staatsdoktrin: Was bringt der Kahlschlag wirklich?“ Artikel vom Februar 2024.
  3. Süddeutsche Zeitung: „Soziale Gerechtigkeit oder sozialer Abstieg? Das Dilemma der Sparpolitik“. Kommentar, März 2024.
  4. Piketty, Thomas: Kapital und Ideologie. 2020.
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