
Die Uhr tickt – aber nicht auf dem Klo
Es war einmal, in einem kleinen beschaulichen Ort namens Boudry, wo die Uhren nicht nur präzise gehen, sondern die Zeit an sich zum Herrscher über alles erklärt wurde. Hier, im Herzen der eidgenössischen Uhrenmanufaktur Jean Singer et Cie, ist Zeit nicht nur Geld – sie ist eine Ware, die es bis auf die letzte Sekunde zu optimieren gilt. Das mag auf den ersten Blick recht unspektakulär erscheinen. Schließlich sind wir doch alle daran gewöhnt, dass der Kapitalismus nichts mehr liebt, als Menschen zu Automaten zu degradieren, die effizienter und schneller arbeiten sollen, koste es, was es wolle.
Doch jetzt kommt der Clou: Die Effizienzmaschine des Kapitalismus hat ein neues Schlachtfeld entdeckt – die Toilette. Ja, genau, das stille Örtchen, jener letzte Rückzugsraum, in dem der Arbeiter, der Beamte, die Fabrikantentochter und der Durchschnittsbürger in wohltuender Anonymität dem Ruf der Natur folgen können, ist nun zum Zentrum eines kafkaesken Kampfes um Zeit, Gerechtigkeit und die menschliche Würde geworden. Wer bei Jean Singer et Cie aufs Klo will, der stempelt aus. Und wer denkt, dass dieser Satz schon absurd genug ist, der sei daran erinnert, dass diese Maßnahme von einem Gericht bestätigt wurde.
Der Ankläger mit der Stoppuhr
Aber fangen wir am Anfang an. Ein ganz normaler Arbeitstag im schweizerischen Boudry, irgendwo in den heiligen Hallen der Jean Singer et Cie. Die Uhrenmacher arbeiten fleißig und unermüdlich an den filigranen Zahnrädern und Federwerken, die irgendwann die Handgelenke von Millionären in aller Welt zieren werden. Doch plötzlich – ein leises Grummeln, ein inneres Ziehen. Einer der Mitarbeiter erhebt sich diskret, um der Natur zu folgen. Nichts Außergewöhnliches, könnte man meinen. Schließlich gehört der Gang zur Toilette zu den grundlegenden Bedürfnissen des Menschen, nicht nur in der Steinzeit, sondern auch im 21. Jahrhundert.
Doch weit gefehlt. Die menschliche Physiologie interessiert das Unternehmen nicht die Bohne. Hier gilt: Wer scheißt, arbeitet nicht – und wer nicht arbeitet, bekommt auch nicht bezahlt. So einfach ist das. Schließlich ist Jean Singer et Cie ein Uhrenhersteller und keine Sozialstation. Und in einer Welt, in der Sekundenbruchteile über den Gewinn entscheiden, zählt jeder Atemzug, jeder Schritt und, ja, jeder Tropfen, der im Klo landet.
Der Anwalt des Unternehmens sieht das ganz nüchtern: „Ob es sich dabei um Toilettenpausen, Essenspausen, Ruhepausen, Telefonpausen oder um einen Spaziergang in der Natur handelt: Unabhängig vom Grund der Pause muss sie gestempelt werden.“ Was wie eine Betriebsanweisung für Roboter klingt, ist in der Realität nichts anderes als die institutionalisierte Misstrauenserklärung gegenüber dem menschlichen Körper. Denn wer weiß, was die Angestellten da wirklich machen? Arbeiten sie vielleicht im Stillen an ihrem nächsten „großen Geschäft“ – metaphorisch wie wörtlich? Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.
Wenn die Menstruation zum Betriebsrisiko wird
Der eigentliche Skandal, der hinter dieser Entscheidung lauert, ist allerdings nicht das feindliche Übernehmen der menschlichen Verdauung durch den Kapitalismus – das ist, zugegebenermaßen, schon bizarr genug – sondern die subtile, aber äußerst reale Geschlechterungerechtigkeit, die sich hier auftut. Denn das kantonale Gericht, so gewissenhaft wie ein Schweizer Uhrwerk, erkannte eine Ungerechtigkeit, die selbst die Philosophen der Aufklärung nicht hätten voraussehen können: Frauen menstruieren. Ja, der weibliche Körper, ohnehin schon eine Herausforderung für das männlich dominierte Arbeitsrecht, hat sich doch tatsächlich angemaßt, in regelmäßigen Abständen ein paar Extra-Minuten auf der Toilette zu verlangen.
Und so wurde die Toilettenregelung von Jean Singer et Cie zur feministischen Frage. Kann es sein, dass Frauen benachteiligt werden, weil sie – oh Schreck – mehr Zeit auf der Toilette benötigen? Und wenn dem so ist, wie soll das Unternehmen diesen Umstand „gerecht“ handhaben? Vielleicht durch die Einführung von Menstruationsbändern? Eine rote Uhr am Handgelenk, die signalisiert: „Entschuldigung, Herr Chef, es ist wieder soweit.“? Oder durch einen Gutschein für extra Klozeit? Es bleibt offen. Was jedoch klar ist: Die Uhr der Geschlechtergerechtigkeit tickt erbarmungslos weiter.
Die stille Revolution der Klo-Kultur
Es ist schon eine Groteske sondergleichen, dass in einer Welt, in der die großen politischen Kämpfe um Klimawandel, soziale Ungerechtigkeit und die Digitalisierung geführt werden, ausgerechnet der Gang zur Toilette als Symbol des Klassenkampfes der Moderne herhalten muss. Während Karl Marx in seinen staubigen Büchern die industrielle Revolution seziert, hätte er wohl kaum damit gerechnet, dass die wahre Revolution irgendwann am Klosett stattfinden würde. Denn was hier auf dem Spiel steht, ist nicht nur der schnöde Anspruch auf ein paar Minuten Privatheit in einer durchgetakteten Arbeitswelt – es geht um nichts weniger als die fundamentale Frage: Was darf der Mensch in seiner Arbeitszeit eigentlich noch als „menschlich“ ansehen?
Doch bevor wir uns zu sehr in den philosophischen Untiefen dieser Frage verlieren, sei daran erinnert: Dies ist nicht nur eine Geschichte über das stille Örtchen, sondern auch über die stille Duldung, die wir als Gesellschaft gegenüber immer neuen Übergriffen auf unsere Grundrechte an den Tag legen. Denn wer sich noch an die Zeiten erinnern kann, als Pausen als unantastbare Ruheräume des Arbeitnehmers galten, der muss sich eingestehen: Der Kapitalismus hat längst auch diesen letzten Rückzugsort für sich vereinnahmt. Willkommen in der Ära des Toilettenturbokapitalismus, wo selbst der Akt des Stuhlgangs zur Bilanzposition wird.
Ein Recht auf Scheißen
Die große Frage bleibt also: Ist Scheißen ein Menschenrecht? Die Antwort darauf scheint ebenso kompliziert wie absurd zu sein. Auf den ersten Blick würde jeder wohl sagen: Natürlich! Schließlich spricht die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte in Artikel 1 davon, dass alle Menschen „frei und gleich an Würde und Rechten geboren“ sind. Das bedeutet, dass der Mensch in seiner Würde unantastbar ist – und was ist würdeloser, als mit einer Stoppuhr aufs Klo geschickt zu werden? Doch in einer Welt, in der die Arbeitszeit bis auf die Sekunde optimiert wird, ist die Würde des Menschen nur noch ein lästiger Kostenfaktor.
Jean Singer et Cie und das kantonale Gericht von Neuenburg sehen das anders: Hier zählt Effizienz. Und wenn Effizienz bedeutet, dass man auf den Klo-Gang achtet, dann soll es eben so sein. Schließlich können Menschenrechte nicht ohne wirtschaftliche Rationalität auskommen, oder? Das Recht auf Pausen, Ruhe und Erholung mag irgendwo in den UN-Konventionen stehen, aber wenn es darum geht, die Produktionszahlen zu steigern, dann ist das alles eben nur ein nettes Beiwerk. Ein moralischer Luxus, den man sich vielleicht in guten Zeiten leisten kann, aber sicher nicht in Zeiten des globalen Wettbewerbs.
Der stille Sieg des Kapitalismus
Was bleibt am Ende dieser zynischen Farce? Ein bitterer Nachgeschmack und das Gefühl, dass der Kapitalismus, dieser ewige Feind des menschlichen Wohlbefindens, mal wieder gesiegt hat. Die Toilette, einst ein Ort der ungestörten Reflexion, der letzten Bastion der individuellen Freiheit im Arbeitsalltag, ist nun nichts weiter als eine weitere Variable im Effizienzrechner der Unternehmen. Die Uhren ticken, aber sie ticken nicht mehr für uns. Sie ticken für den Profit. Und während wir uns dem Diktat der Zeit immer weiter unterwerfen, bleibt uns nur die Erkenntnis, dass die Freiheit am Ende doch in den kleinen Dingen des Lebens steckt – und vielleicht auch darin, ab und zu einfach mal auszustempeln.
Quellen und weiterführende Links
- Arbeitsrecht in der Schweiz – Eine Analyse der gesetzlichen Grundlagen und aktuellen Gerichtsentscheidungen.
- Gutknecht, Heinz. Der Mensch im Turbokapitalismus – Wie die Effizienzmaschine uns alle in den Wahnsinn treibt.
- Toiletten und die Arbeitswelt – Eine historische und kulturelle Analyse des Klo-Gangs im Kontext der Arbeitsrechtsgeschichte.
- Marx, Karl. Das Kapital – Weil auch Karl mal musste.
- Neue Zürcher Zeitung, Der Standard, Le Monde – Aktuelle Berichterstattung zur Entscheidung des kantonalen Gerichts Neuenburg und den Reaktionen in der Schweiz.