Sagen, was ist? Sagen, was sein soll!

Von der unbequemen Wahrheit zur bequemen Erzählung

„Sagen, was ist“, hieß es einst bei Augstein. „Sagen, was sein soll“, heißt es heute. Und das nicht etwa aus intellektuellem Übermut, sondern aus Notwendigkeit. Denn die Wirklichkeit ist bekanntermaßen ein unzuverlässiger Partner, der nicht immer so will, wie er soll. Eine eigenwillige Diva, die sich nicht an Narrativen, Parteiprogrammen oder geopolitischen Masterplänen orientiert. Was also tun? Richtig! Man erklärt einfach das „Sein-Sollende“ zum „Ist-Zustand“ und hofft darauf, dass genügend Leute in die Illusion einsteigen.

Die Meinungsfreiheit: Lieb Kind nur, wenn sie das Richtige sagt

Früher war Meinungsfreiheit einfach: Jeder durfte sagen, was er wollte, und andere durften daraufhin schimpfen, argumentieren oder sich abwenden. Heute ist sie ein hochkomplexes Minenfeld, auf dem die mutige Meinungsäußerung etwa so risikolos ist wie ein Spaziergang durch ein russisches Ölfeld mit einem brennenden Streichholz. Wer das Falsche sagt – also nicht das, was sein soll –, kann sich schneller auf einer schwarzen Liste wiederfinden, als ein Politiker nach verlorenen Wahlen sein Parteibuch wechselt. Aber keine Sorge: Meinungsfreiheit gibt es natürlich weiterhin. Man muss halt nur die richtige Meinung haben.

Demokratie: Die unliebsamen Wähler

Demokratie ist ein großartiges Konzept, solange die Wähler sich an die Drehbücher halten. Blöd nur, dass sie immer wieder auf die Idee kommen, das Falsche zu wählen. Doch keine Sorge, findige Geister arbeiten längst an Lösungen für dieses Dilemma. Sei es durch die geschickte Einschränkung von Wahloptionen, die elegante Neudefinition von Begriffsrealitäten oder die vorsorgliche Warnung, dass manche Wahlergebnisse „demokratiegefährdend“ sein könnten. Es geht ja schließlich nicht um das, was die Leute wollen – es geht um das, was sie wollen sollten!

Der Feind, den wir brauchen

Jede große Erzählung braucht ihren Schurken. Früher war das einfach: Der Feind trug eine Uniform, marschierte in Länder ein und ließ sich leicht auf Landkarten einzeichnen. Heute ist das komplexer. Mal sind es „Globalisten“, dann wieder „Populisten“, dann „Wissenschaftsleugner“, mal „Putin-Versteher“ oder wahlweise „Klimaterroristen“. Die Liste wächst täglich. Ein Glück, dass die Realität so flexibel ist, dass sich jederzeit ein neuer Erzfeind aus dem Hut zaubern lässt. Ein wenig PR, eine passende Studie, ein paar wohlplatzierte Artikel, und schon wissen alle, wen sie hassen müssen.

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Fortschritt um jeden Preis – und wehe, es gibt Kritik

Fortschritt ist gut. Immerhin haben wir damit Elektrizität, Impfstoffe und das Internet bekommen. Aber Vorsicht! Fortschritt ist heute nicht mehr das, was sinnvoll und nützlich ist, sondern das, was als Fortschritt deklariert wird. Wer zweifelt, ob wirklich jeder gesellschaftliche Umbau, jede neue Regelung, jede globale Weichenstellung ein unausweichlicher Segen ist, macht sich verdächtig. Denn wahre Fortschrittsfreunde hinterfragen nicht – sie klatschen begeistert, auch wenn sie nicht wissen, wofür genau.

Was sein soll, wird sein – egal, ob es ist

Wir leben in einer Welt, in der Realität zu einem dehnbaren Konstrukt geworden ist. Eine PR-Agentur hier, ein paar richtige Multiplikatoren dort, und schon wird aus einer Forderung ein Sachzwang, aus einer Meinung ein Gesetz, aus einer Minderheit die Mehrheit und aus einer schlechten Idee die einzig zulässige Wahrheit. Sagen, was ist? Nein, danke. Lieber sagen, was sein soll. Denn das, so scheint es, ist heutzutage die wahre Kunst der Politik, der Medien und der großen gesellschaftlichen Akteure. Die Frage ist nur: Wie lange spielt die Realität noch mit?

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