Prolog der Abscheu

Wenn der Wahnsinn zum Alltag wird

Es gibt Nachrichten, die nicht bloß informieren, sondern verstören, erschüttern, die das ohnehin fragile Geflecht aus Moral, Vernunft und Menschlichkeit, das wir euphemistisch „Gesellschaft“ nennen, mit brachialer Gewalt zerschneiden. Der Angriff in Southport ist eine solche Nachricht. Es ist eine Symphonie des Grauens, komponiert aus unvorstellbaren Zahlen und unaussprechlichen Taten. Aber die Zahlen sind nicht nur Zahlen, und die Taten sind nicht bloß Taten. Sie sind Schreie im Äther, Echo eines Zivilisationsbruchs, der uns, wenn wir denn hinzusehen wagen, direkt in die Augen blickt.

Doch hinsehen will kaum jemand. Nicht wirklich. Hinsehen bedeutet nämlich, sich nicht nur dem Schmerz der Opfer, sondern auch der eigenen Komplizenschaft im kollektiven Wegschauen zu stellen. Und da fängt das Drama erst an.

Wenn Zahlen zu Messern werden

85 Stiche. 122 Stiche. 32 Stiche. Und jedes dieser Messer ist nicht nur eine physische Klinge, sondern auch eine Metapher. Eine Metapher für die absurde Berechenbarkeit von Brutalität in einer Welt, die längst ihren moralischen Kompass verloren hat. Der Angreifer, dessen Namen wir hier gar nicht erst nennen wollen (denn schon das wäre zu viel der Ehre), sticht nicht nur auf Körper ein, sondern in das Herz einer Gesellschaft, die sich in trügerischer Selbstzufriedenheit wiegt.

Man könnte zynisch fragen: Was genau ist eigentlich die Schwelle, ab der wir endgültig kapitulieren? 50 Stiche? 100? Oder brauchen wir erst 1000, bevor das moralische Alarmsystem anspringt? Es scheint, als wäre die Statistik unsere letzte Zuflucht, unser trojanisches Pferd der Verdrängung. Denn Zahlen kann man zählen, und was man zählen kann, verliert an Schrecken. Es wird abstrakt, ein mathematisches Problem, das man vielleicht in Excel-Tabellen ablegen könnte. Aber wehe, man sieht hin!

Ein Märchen in der Hölle

„Sie rannte aus dem Gebäude, als der Angreifer sie zurück ins Haus zog.“ Man stelle sich das vor. Nein, das kann man nicht. Und vielleicht ist das das eigentliche Problem. Diese Szene, in einem Film dargestellt, würde uns das Popcorn aus der Hand fallen lassen. Doch in der Realität? In der Realität schweigen wir, weil uns der Mut fehlt, die Implikationen dieser Handlung zu durchdenken.

TIP:  Wildkatze bleibt Wildkatze

Dieses kleine Mädchen aus Southport, das 32 Stiche überlebte, ist nicht nur ein Kind, sondern ein Symbol. Ein Symbol für die abgrundtiefe Diskrepanz zwischen der Unschuld, die wir Kindern zuschreiben, und der Grausamkeit, die wir ihnen antun. Und dabei ist „wir“ kein rhetorischer Trick. Denn jede Vertuschung, jedes Wegsehen, jedes „So schlimm wird es doch nicht sein“ macht uns zu Mittätern.

Ein Monument des Schweigens

Ah, die Vertuschung. Sie ist das Sahnehäubchen auf der Torte der Gleichgültigkeit. Eine Vertuschung bedeutet nicht nur, dass jemand versucht, die Wahrheit zu verschleiern. Es bedeutet, dass eine ganze Infrastruktur aus Bürokraten, Politikern, Medienvertretern und wahrscheinlich auch Nachbarn aktiv oder passiv mitspielt. Der Angriff in Southport hätte ein Weckruf sein können. Doch stattdessen hat man den Wecker ausgeschaltet, die Decke über den Kopf gezogen und sich eingeredet, dass es in der Dunkelheit doch viel gemütlicher sei.

Man wird uns später sagen, die Vertuschung sei aus „Rücksichtnahme“ erfolgt. Rücksichtnahme auf wen? Auf die Täter? Auf die fragilen Nerven derjenigen, die sich sonst in ihren sozialen Netzwerken mit moralischer Überlegenheit brüsten? Manchmal ist Schweigen nicht Gold, sondern Blut.

Das unaussprechliche Böse und die Feigheit des Kollektivs

„Ich habe keine Worte, um dieses Böse zu beschreiben“, heißt es in einem Satz, der scheinbar Betroffenheit ausdrücken will. Doch ist er nicht genau das, was dieses Böse nährt? Denn Worte zu finden, sich damit auseinanderzusetzen, darüber zu schreien, zu schreiben, zu streiten, das wäre die einzige Reaktion, die diesem Grauen gerecht würde.

Stattdessen bleibt uns nur die makabre Hoffnung, dass die nächste Tragödie weniger grausam, weniger verstörend, weniger „nachrichtenwürdig“ sein möge. Und das, meine Damen und Herren, ist die eigentliche Tragödie: Dass wir in einer Welt leben, in der wir uns längst daran gewöhnt haben, das Unvorstellbare vorzustellen – und dann doch weiterzuschlafen.

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