
Am 15. Mai 1955 war es so weit. Auf dem Balkon des Schlosses Belvedere verkündete der damalige Außenminister Leopold Figl jenen Satz, der sich tief in das kollektive Gedächtnis der österreichischen Nation einbrannte: „Österreich ist frei!“ – drei Worte, einfach, klar, kraftvoll. Sie standen am Ende jahrelanger Verhandlungen, diplomatischer Winkelzüge und eines nicht unbeträchtlichen Maßes an politischem Opportunismus – aber auch für die Geburt einer souveränen Zweiten Republik. Der Österreichische Staatsvertrag war mehr als ein internationales Dokument – er war ein Symbol, ein Versprechen, ein Akt der Wiedergeburt.
70 Jahre später lohnt es sich, genauer hinzuschauen: Was war dieser Staatsvertrag eigentlich, wie kam es dazu – und was bleibt davon in der Gegenwart, in einer Welt, in der Freiheit längst zur Vokabel in Imagebroschüren verkommen ist?
Zwischen Besatzungsmächten und Bündnisfreiheit: Die Geburt einer Zweiten Republik
Der Österreichische Staatsvertrag wurde am 15. Mai 1955 im Schloss Belvedere von Vertretern der vier Besatzungsmächte – der Sowjetunion, der Vereinigten Staaten, Großbritanniens und Frankreichs – sowie der österreichischen Bundesregierung unterzeichnet. Damit endete offiziell die zehnjährige alliierte Besatzung nach dem Zweiten Weltkrieg. Österreich wurde als unabhängiger und demokratischer Staat wiederhergestellt.
Doch die wahre politische Leistung bestand in der internationalen Anerkennung der österreichischen Neutralität, die am 26. Oktober 1955 gesetzlich verankert wurde. Österreich erklärte sich bereit, dauerhaft neutral zu bleiben, keinem Militärbündnis beizutreten und keine fremden Truppen auf seinem Boden zuzulassen. Das war der Preis – und das diplomatische Kunststück zugleich – das Österreich zwischen Ost und West einen einzigartigen Handlungsspielraum verschaffte.
Es war ein politischer Balanceakt mit historischem Gewicht: Während Europa sich in NATO und Warschauer Pakt aufteilte, behauptete sich Österreich als neutraler Vermittler und Gastgeber des Dialogs. Eine Rolle, die Wien mit dem Sitz internationaler Organisationen wie der UNO oder der OSZE bis heute spielt – auch wenn manchmal mehr Schein als Sein geblieben ist.
Der Staatsvertrag als Mythos und Realpolitik
Der Staatsvertrag wurde über die Jahre zu einem Gründungsmythos stilisiert – nicht ohne Grund. Er markierte den endgültigen Bruch mit dem nationalsozialistischen Erbe, wenngleich Österreich sich lange Zeit lieber selbst als „erstes Opfer“ statt als Mitverantwortlicher der NS-Verbrechen inszenierte. Erst Jahrzehnte später begann eine breitere, kritischere Auseinandersetzung mit der Rolle vieler Österreicher im Dritten Reich – der Staatsvertrag war ein Anfang, aber sicher kein Abschluss dieser Aufarbeitung.
Und doch: Das Narrativ vom befreiten, „wiedergeborenen“ Österreich half einer zerrissenen Nation, sich selbst neu zu konstruieren. Nicht mehr deutschnational, nicht mehr provinziell, sondern europäisch, offen und – neutral. Der Staatsvertrag lieferte nicht nur die völkerrechtliche Grundlage, sondern auch das emotionale Fundament für ein neues nationales Selbstbewusstsein.
Und heute? Freiheit im Zeitalter der Apathie
Was bleibt heute, in einer Zeit, in der Begriffe wie Souveränität, Unabhängigkeit und Neutralität oft eher rhetorische Accessoires als gelebte Praxis sind? In der globale Abhängigkeiten, ökonomische Verflechtungen und sicherheitspolitische Spannungen Neutralität zu einem Begriff der Vergangenheit machen?
Österreichs Neutralität wird – je nach ideologischer Brille – als überholtes Relikt oder als wertvolles diplomatisches Kapital betrachtet. Die sicherheitspolitische Realität hat sich längst verändert: Kooperation mit der NATO, Teilnahme an EU-Battlegroups, weltweite militärische Beteiligung im Rahmen von Friedensmissionen. Der Geist des Staatsvertrags wird hier oft bemüht – und ebenso oft kreativ interpretiert.
Gleichzeitig hat die Erinnerung an 1955 auch einen inneren Auftrag: Freiheit ist nichts Selbstverständliches. Sie muss errungen, gestaltet und verteidigt werden. Nicht nur gegen äußere Bedrohungen, sondern auch gegen innere Gleichgültigkeit. Denn Freiheit, das zeigt die Geschichte des Staatsvertrags, ist kein Zustand – sie ist ein Prozess. Und sie beginnt immer mit dem Willen zur Verantwortung.
Fazit: Ein Vertrag – und ein Vermächtnis
Der 15. Mai ist mehr als ein historisches Datum. Er erinnert uns daran, dass politische Weitsicht, kluge Diplomatie und ein Mindestmaß an nationalem Konsens tatsächlich etwas bewegen können. In einer Welt, die von Polarisierung, Rückzug und nationalem Egoismus geprägt ist, wirkt dieser Gedanke fast romantisch – aber auch dringend notwendig.
70 Jahre nach seiner Unterzeichnung bleibt der Österreichische Staatsvertrag ein Mahnmal, ein Modell und ein Mythos. Möge er nicht nur gefeiert, sondern auch verstanden werden.
Denn: „Österreich ist frei“ – bleibt nur dann mehr als ein historischer Satz, wenn wir bereit sind, diese Freiheit täglich neu zu denken.