
Wolfsburgs letzter Trommelwirbel
Es war einmal ein Land, in dem drei Dinge als unantastbar galten: das Brötchen beim Bäcker, der Tatort am Sonntag und die Jobgarantie bei Volkswagen. Wenn man eines Tages durch Wolfsburg oder durch die heiligen Hallen der deutschen Industriegeschichte schritt, spürte man den Atem der Vergangenheit. Hier entstand das, was wir heute als „Wirtschaftswunder“ feiern: Volkswagen, die fleißigen Hände deutscher Arbeiter, Stahl, Öl und unerschütterliche Optimierung. Die Autobranche war nicht nur der Motor der deutschen Wirtschaft, sondern das Bollwerk gegen jedwede Krise. Und nun? Nun sitzen wir in einer Art Zeitmaschine, die uns nicht in die Zukunft, sondern zurück in den Abgrund führt – genau in jene dunklen Ecken der Vergangenheit, in denen Fabriken dichtmachen, Jobs verloren gehen und das Versprechen eines stabilen Lebens auf ewig zerbricht.
Inmitten dieser trostlosen Landschaft erhebt sich nun die Nachricht wie ein Paukenschlag aus Wolfsburg: Volkswagen, die Ikone, der Titan unter den deutschen Industrieunternehmen, will die Beschäftigungssicherung aufkündigen und erwägt sogar Werksschließungen. Werksschließungen bei VW? In Deutschland? Das gab es noch nie. Aber wie jeder Albtraum, der Realität wird, öffnet diese Entscheidung die Schleusen für eine Lawine des Niedergangs, die nicht nur VW, sondern die gesamte deutsche Industrie mit sich reißen könnte.
Der gefallene Gigant
Volkswagen – oder „VW“, wie es im deutschen Kollektivbewusstsein verankert ist – war stets mehr als ein bloßer Autohersteller. VW war die Lebensversicherung der deutschen Mittelschicht, das Symbol für Wohlstand und Sicherheit. Ein VW-Job war so sicher wie die Rente – zumindest dachten wir das. Mit der Nachricht, dass VW über Standortschließungen nachdenkt, stehen wir nun vor einer neuen Ära. Es ist, als würde jemand dem verstaubten Familienalbum die letzte Seite entreißen. Die Zeit der „unantastbaren“ Industriegiganten, die uns durch jede Krise tragen, scheint vorbei.
Die Ankündigung von VW hat einen gewissen Hauch von Tragik, ja von Shakespeare’scher Dramatik: Der Gigant, der die deutsche Nachkriegswirtschaft hochgezogen hat, erwägt nun, seinen eigenen Untergang zu besiegeln. Und während die Manager auf ihre Aktienkurse und Quartalszahlen starren, wird in den Hinterzimmern über Werksschließungen nachgedacht, als wäre es nur eine kleine Neuausrichtung. Doch das ist kein harmloser Umbau – das ist der Dammbruch.
Die Titanic der deutschen Industrie
Es scheint, als sei die deutsche Automobilindustrie die Titanic der deutschen Wirtschaft: mächtig, glänzend, unzerstörbar. Bis zu dem Moment, in dem sie den Eisberg namens „elektrische Revolution“ rammte. Und dieser Eisberg kam nicht plötzlich. Die Warnsignale waren da – vom Dieselskandal bis hin zur verzögerten Umstellung auf E-Mobilität. Doch wie Kapitän Edward Smith auf der Titanic glaubte auch die deutsche Autoindustrie, sie könne mit ihrer schieren Größe alles durchbrechen. Doch jetzt dringt das Wasser unaufhaltsam in den Maschinenraum ein.
VW ist nicht der einzige Autohersteller, der wackelt, aber es ist der prominenteste. Wenn selbst der Vorreiter der deutschen Mobilität über Werksschließungen nachdenkt, wie lange wird es dauern, bis andere Unternehmen wie BMW und Mercedes folgen? Diese einstigen Kronjuwelen der deutschen Industrie stehen vor der selben Entscheidung: die Produktion radikal umzustrukturieren oder weiterzusinken. Wie die Titanic kämpft auch die Autobranche nicht gegen einen einzelnen Eisberg, sondern gegen eine ganze Kette von Krisen: Klimawandel, Digitalisierung, Rohstoffknappheit und vor allem – die schwindende Gnade der Verbraucher, die zunehmend an das Elektrozeitalter glauben wollen.
Die Kettenreaktion
VW ist nur der erste Dominostein. Denn wenn die deutsche Autoindustrie taumelt, wird der Rest der Industrie unweigerlich mitgerissen. Die Chemieindustrie zum Beispiel – das Rückgrat jeder Automobilproduktion, denn ohne Chemikalien keine Lacke, keine Kunststoffe, keine Batterien – wackelt schon. Leverkusen, die Heimat von Bayer und Co., wird zum Sinnbild einer Industrie, die sich zwar Jahrzehnte im Weltmarkt behauptet hat, aber nun vor der selben existenziellen Frage steht: Was kommt nach dem fossilen Zeitalter?
Der Niedergang der deutschen Chemieindustrie würde ganze Regionen in wirtschaftliche Finsternis tauchen. Ein düsteres Echo aus den 1980er Jahren hallt durch die Straßen: „Die Zechen schließen, aber wir haben noch die Industrie!“ Und nun? Wenn die Chemie kippt, kippt nicht nur der Standort Deutschland, sondern auch die europäische Chemielandschaft, die in den letzten Jahren immer mehr an globale Konkurrenten verloren hat.
Aber der schlimmste Schlag könnte die Stahlindustrie treffen. „ThyssenKrupp“, das alte deutsche Schwergewicht, steht schon lange auf wackligen Beinen. Die Dekarbonisierung erfordert enorme Investitionen, aber das alte Rezept, den Staat zur Kasse zu bitten, scheint nicht mehr zu funktionieren. Und wer braucht noch Stahlwerke, wenn keine Autos mehr produziert werden? Schon heute werden die Auftragsbücher dünner, die Bänder laufen langsamer, und in den Pausengesprächen geht es zunehmend um Abfindungen statt um Urlaubspläne.
Und dann der Maschinenbau, das Rückgrat der deutschen Exportwirtschaft. Einst der Stolz der Nation, bekannt für Ingenieurskunst und Effizienz. Doch was ist eine Hochleistungsmaschine wert, wenn die Welt keinen Bedarf mehr an den Produkten hat, die sie herstellt? Die asiatische Konkurrenz drängt, und die deutsche Industrie, betäubt von der eigenen Überheblichkeit, hat den Wandel verschlafen.
Das Ende einer Ära – Wer dreht das Licht ab?
Das letzte Jahrzehnt war das Jahr der Krisen: Finanzkrisen, Eurokrisen, Migrationskrisen, Pandemiekrisen. Und jetzt? Jetzt kommt die finale Krise: die Krise der deutschen Industrie. Was einst als unverrückbarer Fels in der Brandung galt, wird nun vom steigenden Meer des globalen Wettbewerbs umspült. Volkswagen hat den Anfang gemacht, aber der Rest wird folgen. Die politischen Parolen von „Standortsicherung“ und „Innovationsführerschaft“ wirken wie schlechte Witze in einem Kabarettprogramm, das niemand mehr sehen will.
Und wer dreht am Ende das Licht ab? Die Frage ist nicht mehr „ob“, sondern „wann“. Vielleicht ist es der letzte Arbeiter in einem entlegenen Werk irgendwo im Ruhrgebiet, der auf dem Weg zur Abfindungsunterzeichnung das Licht am Werkstor löscht. Vielleicht ist es der letzte Ingenieur bei Siemens, der die Computer herunterfährt und sich fragt, ob man nicht doch besser in die USA oder nach China ausgewandert wäre. Oder vielleicht ist es der letzte Journalist, der von der Schließung einer weiteren Fabrik berichtet, bevor auch sein Job dem digitalen Umbruch zum Opfer fällt.
Ein Abgesang auf „Made in Germany“
„Made in Germany“ war einst das Siegel für Qualität, Zuverlässigkeit und Innovation. Heute steht es nur noch für die vergeblichen Versuche, die Zukunft zu sichern, während die Vergangenheit uns langsam erdrückt. Die Schließung eines VW-Werks in Deutschland wäre nicht nur eine ökonomische Katastrophe, sondern der symbolische Abschied von einem Zeitalter, in dem „deutsche Wertarbeit“ der Maßstab für die Welt war. Es ist, als würde man das letzte Streichholz in einem dunklen Raum anzünden – nur um festzustellen, dass es nichts mehr gibt, was man damit erhellen könnte.
Wenn Volkswagen fällt, fällt nicht nur ein Konzern. Es fällt eine ganze Ära des Wohlstands, der Sicherheit und der Arbeitsethik, die Deutschland so lange getragen hat. Die Zukunft? Ungewiss. Der Niedergang? Unaufhaltsam. Der letzte Arbeiter wird das Licht ausmachen, und dann bleibt nur noch die Dunkelheit.
Quellen und weiterführende Links
- VDA (Verband der Automobilindustrie): Bericht zur Lage der deutschen Automobilindustrie, 2023.
- Böcking, David: Die Zukunft der deutschen Industrie – Chancen und Risiken, in: Der Spiegel, Ausgabe 45/2023.
- Frankfurter Allgemeine Zeitung: Volkswagen: Werksschließungen und die Folgen für den Standort Deutschland, Dezember 2023.
- Hopp, Christine: Das Ende des Wirtschaftswunders? – Deutschland zwischen Dekarbonisierung und Deindustrialisierung, in: Wirtschaftswoche, September 2023.
- Handelsblatt: Krise der deutschen Industrie: VW, Chemie und der Flächenbrand, Dezember 2023.