KREUZ UND QUEER

Wokismus als Heilslehre der Selbstoptimierung

Die Welt ist in Bewegung. Kein Stein bleibt auf dem anderen. Menschen rennen hektisch in alle Richtungen, getrieben von der Sehnsucht, die eigene Existenz auf die letzte millimetergenaue Korrektheit zu prüfen. Es ist die Epoche der Neudefinition – der Renaissance der Überempfindlichkeit, die alles zum Leben erweckt, was jemals falsch gewesen sein könnte. Kein Mensch, der sich nicht ein „Wie soll ich mich richtig fühlen?“-Handbuch wünscht. Willkommen in der Welt der Wokeness, einem intersektionalen Labyrinth, wo Moral und Sühne zu einer Art soziokulturellem Pilates verschmelzen: schmerzhaft, aber zumindest tut man was für sich.

Es beginnt wie jede gute Religion: Mit der Schuld. Ursünde 2.0, diesmal aber nicht nur eine Schuld an der eigenen Existenz, sondern auch an der der anderen. Die woke Offenbarung ist das universelle Eingeständnis, dass nichts, aber auch gar nichts richtig ist. Jeder Blick, jede Geste, jeder Atemzug – eine potentiell beleidigende Mikroaggression. Es ist das Evangelium der hyperkritischen Selbstreflexion: Man soll nicht nur den Splitter im Auge des Anderen, sondern vor allem die Brille der eigenen Privilegien im Gesicht erkennen.

Die wahre Gläubigkeit drückt sich durch dauerhafte Bußrituale aus. Man kann nie genug „Allies“ sein. Wie ein schräger Superheld des modernen Liberalismus muss man sich konstant neu erfinden: Queer, nicht-binär, genderfluid oder noch nicht einmal fertig definiert, weil es das nächste Label sowieso bald geben wird. Hauptsache, man hat dabei stets die passende Flagge parat.

Der Körper als Billboard

Früher nutzte man den eigenen Körper, um Dinge zu tun: laufen, arbeiten, tanzen, meinetwegen auch kämpfen. Heute ist der Körper viel mehr als nur ein Werkzeug. Er ist ein Statement. Kein Satz mehr, den man spricht, kein Satz mehr, den man hört, kann losgelöst von dem Sein, das in ihm mitschwingt, bestehen. Jede Tat und jedes Wort sind Träger eines unausgesprochenen Auftrags zur Sichtbarmachung. Du bist, was du darstellst, und die moderne Woke-Ästhetik hat dafür gesorgt, dass diese Darstellung jederzeit korrekt und up-to-date sein muss.

TIP:  Der virtuelle Brandherd

Sein oder nicht sein? Falsch gefragt. Bist du sichtbar oder unsichtbar? Und falls sichtbar, auf welchem Medium? Die Monokultur der Kleidung aus der Zeit vor dem Regenbogen ist tot. Trage Schwarz und du bist möglicherweise ein klischeehaft trauernder Gothic – oder schlimmer, ein unwissender Verweigerer der Pride-Flagge. Der Regenbogen? Er ist nicht nur eine Huldigung der Farbenvielfalt, er ist ein psychologischer Lackmustest. Du bist ein monochromer Langweiler? Willkommen im Club der Privilegierten, die zu unreflektiert sind, um ihre Zugehörigkeit zu performen. Bunte Haare, Button-Abzeichen und ausdrucksstarke Statements auf Kleidern sind die neuen Bekenntnisse. Anonymität? Altbacken.

Es ist eine Welt, in der der Slogan das Ich ersetzt. Die wahre Tugend zeigt sich nicht in der Tat, sondern in der Oberfläche. Die Körper modifizieren sich, nicht nur im Fitnessstudio, sondern vor allem in der moralischen Fabrik.

Wenn Empörung zur Dauerbeschallung wird

Es wäre so angenehm, sich einfach mal hinzusetzen und an gar nichts zu denken. Die Sonne genießen, vielleicht einen guten Kaffee trinken. Aber halt! Hast du gerade daran gedacht, dass dieser Kaffee möglicherweise von ausgebeuteten Bauern in Guatemala geerntet wurde? Oder dass die Sonne – wenn auch ohne böse Absicht – deinem gebräunten Privileg schadet, während sie gleichzeitig Menschen im globalen Süden mit Hautkrebs bedroht?

Es ist anstrengend, woke zu sein. Besonders, wenn du als Einpeitscher des moralischen Fortschritts eine Verpflichtung hast, nicht nur jeden Tag selbst besser zu werden, sondern auch die Fehler der anderen kontinuierlich und lautstark zu korrigieren. Es reicht nicht, selbst korrekt zu leben. Du musst auch sicherstellen, dass andere es tun. Woke-Tourette ist die Konsequenz. Plötzliche Ausbrüche von „Das ist aber problematisch!“ oder „Check deine Privilegien!“ sind an der Tagesordnung.

Doch die Selbstkontrolle muss penibel sein. Selbst der wohlmeinendste Woker kann ausrutschen. Der Feind lauert überall: im Wortschatz, in einer unschuldigen Frage, in einem zu unüberlegten Lob. „Du siehst gut aus heute!“ mag eine freundliche Geste sein, doch im Spiegel der woke Moraltheologie entpuppt es sich als Übergriff auf Körpernormen. Und wehe, du ignorierst jemanden, der gerade seine Geschlechtsidentität ändert. Das ist kein Fauxpas, das ist Hochverrat.

TIP:  Über welche Dimensionen sprechen wir heute

Woke-Sein bedeutet, stets auf Messers Schneide zu tanzen. Eine Unachtsamkeit, und du bist geächtet. Moralische Wimpernschläge dauern nur Millisekunden, aber die Folgen sind ewig.

Wer du bist, bestimmt was du wert bist

Identität ist heute kein Zustand, sondern ein Prozess. Eine fließende Verhandlung zwischen der Frage „Wer bin ich?“ und der ständigen Notwendigkeit, dieses „Wer“ auf allen erdenklichen Plattformen zu inszenieren. Es reicht nicht, ein guter Mensch zu sein – du musst es posten, twittern, liken und teilen. Dein Wert wird nicht mehr in traditionellen Kategorien wie Integrität, Charakter oder auch nur Sympathie gemessen. Nein, dein Wert wird in deinem Grad an Sichtbarkeit und der richtigen Haltung kalkuliert.

Es ist ein gnadenloser Wettbewerb, bei dem die Regeln sich ständig ändern. Heute feierst du dein Coming-out als nicht-binär, morgen bist du ein Relikt, wenn du dich nicht als polymorph-genderfluid identifizierst. Jeder Tag bringt eine neue Form der Selbstoptimierung, und das Versäumnis, diese sofort zu implementieren, kommt einem moralischen Bankrott gleich. Die Währung der Woke-Kultur ist die ständige Bereitschaft, sich selbst zu reformieren – und diese Reform vor aller Welt öffentlich zu zelebrieren.

Die schlimmste Strafe? Unsichtbarkeit. Kein Retweet, kein Like, keine Erwähnung in den progressiven Medien. Du fällst aus dem Algorithmus der moralischen Relevanz und verschwindest im digitalen Nichts, von dem sich niemand, der die woke Doktrin verinnerlicht hat, je erholen könnte.

Am besten ist, wenn du alles bist

Du hast es satt, immer nur ein einzelnes „Ich“ zu sein? Willkommen im Olymp der Wokeness: der Intersektionalität! Das ist der wahre Heilige Gral des 21. Jahrhunderts, denn die simple Formel lautet: Je mehr du bist, desto besser bist du. Jede zusätzliche Identität ist ein moralischer Joker, den du bei Bedarf ausspielen kannst. Schwarze, feministische, nicht-binäre, genderfluide, neurodiverse Körper sind die ultimativen Sieger im Wettlauf um moralische Unantastbarkeit.

Die intersectionale Doktrin hat die Hierarchien der alten Welt auf den Kopf gestellt. Wer früher unterdrückt wurde, ist heute moralisch überlegen. Die Sühne ist eine Umkehr der Machtverhältnisse: Die ehemals Privilegierten verneigen sich ehrfurchtsvoll vor denen, die es geschafft haben, die meisten Unterdrückungsnarrative in einem einzigen Selbst zu vereinen.

TIP:  Willkommen in der postironischen Republik

Doch auch hier lauert die Falle der Überanpassung. Wieviel Identität kannst du haben, bevor du zur Karikatur wirst? Wann übersteigt das Bedürfnis nach Sichtbarkeit die tatsächliche Substanz des Seins? Und, am wichtigsten: Kannst du überhaupt noch mit dir selbst leben, wenn alles, was du bist, in einer digitalen Dauerschleife öffentlich zur Schau gestellt wird?

Schluss mit lustig

Am Ende steht der Burnout. Der Woke-Warrior, der sich jahrelang durch die Schlachtfelder der Twitter-Debatten, Pride-Paraden und Cancel-Culture-Massaker gekämpft hat, steht eines Tages vor dem Spiegel und sieht… Nichts. Nicht mehr queer genug, nicht mehr progressiv genug, nicht mehr empört genug. Das moralische Fitnessstudio hat seine Muskeln erschöpft.

Was bleibt? Vielleicht eine leise Erkenntnis, dass all die Plakate, die virtuellen Beichten und digitalen Selbstgeißelungen am Ende doch nichts verändert haben – außer dem Blick auf sich selbst. Eine erschöpfte Gesellschaft, die in ihrer Jagd nach Perfektion das Menschliche verloren hat.


Quellen und weiterführende Links:

  1. Butler, Judith: Gender Trouble: Feminism and the Subversion of Identity. Routledge, 1990.
  2. Ahmed, Sara: The Cultural Politics of Emotion. Routledge, 2004.
  3. McIntosh, Peggy: „White Privilege: Unpacking the Invisible Knapsack.“ Wellesley College Center for Research on Women, 1988.
  4. Reed, Adolph: „The Trouble with Uplift: Race, Class, and the Politics of Representation.“ The Baffler, 2018.
  5. Fraser, Nancy: Fortunes of Feminism: From State-Managed Capitalism to Neoliberal Crisis. Verso, 2013.

Für die neuesten Debatten zu Identitätspolitik und Intersektionalität siehe auch:

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