Herodot Reloaded

2500 Jahre alte Weisheit auf dem Schrottplatz der Gegenwart

Herodot, dieser antike Mann mit Bart, Federkiel und scharfem Blick für die Dummheit seiner Zeitgenossen, hatte keine Satelliten, keine Drohnen, keine Künstliche Intelligenz zur Verfügung – und dennoch formulierte er eine Wahrheit, die der heutigen Welt wie ein rostiger Spiegel entgegengehalten werden sollte: „Niemand, der bei Verstand ist, zieht den Krieg dem Frieden vor. Im Frieden begraben die Söhne ihre Väter, im Krieg die Väter ihre Söhne.“ Man könnte denken, ein solcher Satz sollte als eiserner Wahlspruch über jeder UNO-Sitzung hängen, in Großbuchstaben in die Wandverkleidung aller Verteidigungsministerien eingraviert sein, vielleicht sogar als Pflichtlektüre für jeden Lobbyisten, der in Brüssel zwischen Tapas und Think-Tank-Veranstaltungen über „sicherheitspolitische Resilienzstrategien“ fabuliert.

Aber nein. Stattdessen wird Herodot heute allenfalls in akademischen Fußnoten erwähnt, in Formaten, die kein Entscheidungsträger liest, weil sie keine Tabellen mit Wachstumsprognosen enthalten. Der Satz ist zu wahr, um nützlich zu sein. Zu menschlich für eine Welt, die Effizienz über Ethik stellt, Skalierbarkeit über Solidarität. Herodots Weisheit landet, wie so vieles, auf dem intellektuellen Schrottplatz – dort, wo auch Idealismus, Aufklärung und der Begriff Menschlichkeit verrosten dürfen, während das nächste Radar-Startup gerade seine Series-C-Finanzierung sichert.

Kapitalismus im Tarnanzug: Die neue Ästhetik des Tötens

Die Gegenwart hat dem Krieg ein neues Gesicht gegeben: glatt, digital, investorenfreundlich. Statt Schlamm und Blut gibt es nun saubere Dashboards, präzise Heatmaps, schnurrende Präsentationen mit animierten Infografiken. Krieg ist kein dreckiges Handwerk mehr – er ist eine Wachstumsstrategie. Und das macht ihn endlich sexy fürs Kapital. Der Rüstungssektor, dieser lange Zeit moralisch umstrittene Sektor, hat sich erfolgreich einer Imagekampagne unterzogen: Vom Panzer zum Pixel, vom Flächenbombardement zur Punktlandung via Drohne.

Konzerne wie Hensoldt führen diese neue Ästhetik des Tötens geradezu meisterlich vor. Früher hieß das Ding „Zielerfassungsmodul“, heute ist es „adaptive Sensortechnologie für sicherheitskritische Einsatzszenarien“. Klingt gleich viel humaner. Fast wie ein medizinisches Gerät. Und ist doch nichts anderes als ein verbessertes Mittel zur exakten Identifikation des nächsten Toten – ein Fortschritt, über den man sich an der Börse freut. Und warum auch nicht? Schließlich geht es um Effizienz, um Performance. Und Performance, das weiß jedes Portfolio, ist unabhängig von Ethik.

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Das neue Vater-Sohn-Verhältnis: Investieren, Töten, Vererben

Herodot beklagte das Vater-Sohn-Paradox in Kriegszeiten als menschliche Tragödie. Heute ist es Teil des Geschäftsmodells. In der Moderne hat sich das Verhältnis zwischen Vater und Sohn rationalisiert: Der Vater investiert in den Krieg, der Sohn kämpft ihn. Wenn er überlebt, bekommt er Aktienoptionen. Wenn nicht, bleibt der Ertrag wenigstens steuerlich absetzbar. Die Individualtragödie wurde systemisch integriert.

Während im Frieden Generationen sich gegenseitig Geschichten erzählen, wird im Krieg bloß noch berichtet. In Zahlen. In Quoten. In EBIT. Der Krieg ist nicht mehr die Ausnahme, sondern die optimierte Fortsetzung wirtschaftlicher Interessen mit anderen Mitteln. Herodot hatte Mitleid. Die heutige Zeit hat nur noch Marktlogik. Sie fragt nicht mehr: Wie viele Söhne sterben? Sondern: Wie viele Sensoren konnten wir pro Toten verkaufen? Und vor allem: Wie lange hält der Konflikt – und können wir daraus ein Abo-Modell machen?

Bildung, Pflege, Sozialarbeit? Sorry, wir brauchen Sensorik

Die gesellschaftliche Prioritätenliste ist heute so klar wie zynisch: Wenn’s knallt, wächst der Kurs. Wenn’s heilt, kostet es nur. Wer in dieser Ordnung noch für Krankenhäuser, Schulen oder Sozialarbeiter plädiert, wirkt wie ein Museumsführer in einem Silicon-Valley-Startup. Süß, aber störend. Zukunft ist heute, was man verkaufen kann. Und verkauft wird vor allem das, was knallt.

Sensorik ist das neue Gold. Nicht Empathie, nicht Bildung, nicht Demokratiepädagogik. Sondern Radarsysteme mit Cloud-Anbindung. Denn in einer Welt, in der wir alles messen und analysieren können – warum nicht auch Leben und Tod als variable Kennzahlen? Der Unterschied zwischen einem Lehrer und einem Zielerfassungssystem? Der Lehrer rettet ein Leben in zehn Jahren. Der Sensor entscheidet in einer Sekunde, ob eines gelöscht wird. Und das ist, man muss es leider so sagen, sehr viel effizienter. Vom Standpunkt der Logistik. Vom Standpunkt der Investoren. Vom Standpunkt der Wahnsinnigen.

Herodot als Meme: Antike Weisheit im Zeitalter des Endsiegs 2.0

Was bleibt also von Herodot in dieser Welt? Ein Meme vielleicht. Eine ironische Fußnote in einem TikTok-Video über „die dümmsten Zitate der Antike“, unterlegt mit Techno. Denn Weisheit ohne Absatzmarkt ist heute nichts weiter als sentimentales Dekor. Wenn Herodot heute leben würde, er würde vermutlich als unbezahlter Consultant in einem Think Tank enden, der gerade versucht, den nächsten hybriden Konflikt als „Wettbewerbsarena geopolitischer Narrative“ zu framen.

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Oder vielleicht würde er schweigen. Weil er längst verstanden hätte, dass seine Worte nur noch stören. Dass Wahrheit in einer Welt, die sich dem permanenten Alarmzustand verschrieben hat, nicht gefragt ist. Denn dieser Satz – „Im Krieg begraben die Väter ihre Söhne“ – ruiniert jede PowerPoint-Präsentation. Er lässt sich schwer monetarisieren. Und das ist in unserer Zeit ein Todesurteil.

Epilog: Der Verstand hat längst das Feld geräumt

Niemand, der bei Verstand ist, zieht den Krieg dem Frieden vor. Aber was ist, wenn der Verstand längst abgemeldet ist – ersetzt durch Algorithmen, automatisierte Entscheidungsfindung und eine öffentliche Debatte, die lieber „Zeitenwende!“ schreit, als sie zu hinterfragen? Dann ist Herodot kein Mahner mehr, sondern ein Störgeräusch. Ein Fliegenschiss im Getriebe der Kriegsökonomie. Und seine Söhne? Die werden weiter sterben. Planvoll. Strukturiert. Zielgerichtet. Vielleicht auch klimaneutral.

Und die Väter? Sie kaufen Aktien. Zeichnen Anleihen. Und begraben. Mit gutem Gewissen. Denn der Markt hat gesprochen.

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