Doppelmoral – Weil Moral Alleine Nicht Genügt

Die tugendhafte Chimäre unserer Zeit

Man sagt, der Mensch sei ein moralisches Wesen. Doch wie oft zeigt sich, dass seine Moral eine geradezu erstaunliche Fähigkeit hat, sich den Gegebenheiten anzupassen – wie ein Chamäleon, das je nach Bedarf seine Farbe wechselt. Diese Fähigkeit ist jedoch keine biologische Notwendigkeit, sondern ein geistiges Kunststück, das unsere Spezies perfektioniert hat. Der Fachbegriff dafür lautet: Doppelmoral. Sie ist kein unglücklicher Betriebsunfall der Ethik, sondern vielmehr eine unverzichtbare Lebensstrategie, die uns den Spagat zwischen hehrem Anspruch und schmutziger Wirklichkeit ermöglicht. Ohne sie stünden wir nämlich völlig nackt da, bloßgestellt in unserer profanen Widersprüchlichkeit. Das wäre – Hand aufs Herz – doch zutiefst unangenehm, nicht wahr?

Moral als Statussymbol: Heucheln mit Stil

Die moderne Moral hat sich längst zu einem Accessoire gemausert. Früher trugen die Aristokraten Perücken und Kniestrümpfe, heute trägt man moralische Überzeugungen – und zwar vorzugsweise solche, die glänzen wie frisch poliertes Silberbesteck. Moral ist nicht mehr bloß ein Leitfaden für das Handeln, sondern ein Distinktionsmerkmal. Wer sich moralisch korrekt verhält, erhebt sich über den Durchschnitt – zumindest nach außen hin. Doch da stellt sich die Frage: Wie moralisch muss ich wirklich sein, damit es noch gut aussieht, ohne dabei unbequem zu werden?

Das ist die Kunst: Die Doppelmoral erlaubt es uns, die glänzende Fassade zu wahren, während wir hinter verschlossenen Türen nach Lust und Laune sündigen. Wir posten unser veganes Frühstück auf Instagram, während wir abends heimlich Steaks futtern. Wir prangern Online-Shopping an und tippen dennoch nachts um zwei eine Bestellung bei Amazon. Moralische Konsistenz ist so anstrengend – und Doppelmoral bietet die perfekte Ausrede.

Ökologisches Engagement: Rettet die Welt, aber nicht zu meinen Lasten

Kein Thema zeigt die Absurdität der Doppelmoral so deutlich wie der Umweltschutz. In einer Zeit, in der die Erde förmlich vor sich hin brutzelt, ist es ein Muss, sich als umweltbewusster Bürger zu inszenieren. Aber was genau bedeutet das? Nun, es heißt, die richtige Symbolik zu bedienen: Jutebeutel statt Plastiktüten, ein Hybridauto in der Garage und ab und zu ein Foto mit einem selbst gepflanzten Baum. Das reicht.

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Doch wehe, jemand wagt es, uns auf die Widersprüche hinzuweisen! „Wie? Du fliegst nach Bali und nennst dich Klimaschützer?“ – solche Angriffe können die fragile Fassade der Tugendhaftigkeit ernsthaft gefährden. Hier setzt die Doppelmoral zu einem ihrer elegantesten Kunststücke an: Die Reise wird nicht als Urlaubsvergnügen, sondern als „Selbstfindung“ deklariert. Schließlich ist Bali ja nicht nur eine Touristenfalle, sondern ein spirituelles Zentrum, nicht wahr? Und für Spiritualität darf man auch mal CO₂ ausstoßen. Das ist schließlich Teil der menschlichen Suche nach Sinn. Oder so ähnlich.

Wie ich lernte, mir meine Widersprüche zu leisten

Der Konsum ist die Königsdisziplin der Doppelmoral. In keiner anderen Sphäre wird so schamlos fröhlich gegen die eigenen Prinzipien verstoßen. Die Modeindustrie ist ein Paradebeispiel: Man empört sich über die Arbeitsbedingungen in asiatischen Textilfabriken, während man gleichzeitig für 7,99 Euro ein T-Shirt kauft, das nicht einmal ein Praktikant in Europa zusammennähen könnte. Aber hey, immerhin sind wir moralisch empört, oder?

Hier greift eine weitere Grundregel der Doppelmoral: Die Empörung über andere legitimiert den eigenen Fehltritt. Wer lautstark die großen Konzerne kritisiert, kann sich guten Gewissens eine neue Designerhandtasche leisten. Schließlich muss man ja gut aussehen, wenn man demonstrieren geht. Und überhaupt, „es ist doch die Gesellschaft, die mich zwingt, so zu handeln“. Das ist der Trick: Schuld ist immer das System – nie der Einzelne.

Wohltätigkeit auf Instagram

Auch die soziale Gerechtigkeit ist ein Feld, auf dem die Doppelmoral in voller Blüte steht. Wir alle möchten uns als aufgeschlossene, gerechte und solidarische Menschen präsentieren. Deshalb posten wir fleißig Hashtags, teilen Petitionen und „liken“ die Beiträge von NGOs. Aber wenn es darauf ankommt, wirklich zu helfen – etwa, indem wir unseren Steuerberater nicht nach Schlupflöchern fragen oder das billige Reinigungsangebot einer unterbezahlten Putzfrau ausschlagen –, hört der Spaß auf.

Das gilt auch für die Flüchtlingsdebatte. Natürlich sind wir alle für offene Grenzen – zumindest, solange die Betroffenen weit weg bleiben. Sobald aber die Möglichkeit besteht, dass das Asylbewerberheim direkt nebenan errichtet wird, entdecken viele die Liebe zu ihrem „kulturellen Erbe“ und machen sich Sorgen um die „soziale Balance“. Der Spagat zwischen Mitgefühl und Egoismus ist beeindruckend. Es ist fast eine sportliche Disziplin, wie wir es schaffen, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen und gleichzeitig keinerlei persönlichen Verzicht üben zu müssen.

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Warum Doppelmoral unverzichtbar ist

Man könnte meinen, diese Analyse sei eine Abrechnung mit der Doppelmoral. Doch das wäre zu kurz gedacht. Vielmehr sollten wir ihre Existenz anerkennen – ja, feiern! Denn sie ist nicht nur ein Zeichen unserer Unzulänglichkeit, sondern auch unseres Einfallsreichtums. Sie erlaubt uns, mit unseren Widersprüchen zu leben, ohne daran zu zerbrechen. Sie bewahrt uns vor der radikalen Ehrlichkeit, die zwar bewundernswert, aber schlicht unpraktisch wäre.

Am Ende des Tages ist Doppelmoral keine Schwäche, sondern ein Überlebensmechanismus. Ohne sie wären wir entweder heilige Märtyrer oder schamlose Zyniker – und beides wäre doch unerträglich langweilig. Die Doppelmoral hingegen bietet uns die Möglichkeit, beides zu sein: ein bisschen Heiligenschein und ein bisschen Teufelshörner. Denn wer will schon einseitig sein? Moral alleine genügt eben nicht – wir brauchen die Doppelmoral, um uns vollständig auszudrücken. Und wenn das nicht menschlich ist, was dann?

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