Die verkehrte Welt der Grundrechte

Wie man Freiheit mit Wattebäuschen bekämpft

Es gibt Dinge, die sind so banal, dass ihr Wahrheitsgehalt durch die schiere Tatsache ihrer Existenz bestätigt wird. Die Sonne geht auf, Wasser ist nass, und das Grundgesetz schützt den Bürger vor dem Staat, nicht den Staat vor dem Bürger. Letzteres scheint allerdings in Vergessenheit zu geraten, so als wäre es ein altes, muffiges Sofa, das man aus der Studentenbude in den Keller geräumt hat, um Platz für etwas Modischeres zu schaffen. Etwas, das weniger staubig wirkt. Etwas, das sich sanfter anfühlt. Wie eine diskursgerechte, genderinklusive, schadstofffreie Sitzgelegenheit aus ethisch einwandfrei recyceltem Bambus – mit der Botschaft: „Freiheit ist gut, aber bitte ohne Nebenwirkungen.“

Ein Relikt aus finsteren Zeiten?

Die Meinungsfreiheit, dieses alte, abgenutzte Banner, das einst mit dem Pathos eines Voltaire hochgehalten wurde, scheint zunehmend wie eine heikle Erblast aus einer barbarischen Zeit. Heute, so hört man, ist Meinungsfreiheit ein zweischneidiges Schwert: Gut, wenn sie gefällt, problematisch, wenn nicht. Die moderne Interpretation der Meinungsfreiheit lässt sich in einem Satz zusammenfassen: „Jeder darf sagen, was er will – solange es niemanden stört.“ Das ist natürlich eine formidable Entwicklung. Meinungsfreiheit ohne Risiko! Kritik ohne Konsequenzen! Ein wunderbarer Zustand, in dem die Gesellschaft all die anstrengenden Debatten durch freundliches Schweigen ersetzt.

Es stellt sich allerdings die Frage: Ist Meinungsfreiheit, die nicht weh tut, noch Meinungsfreiheit? Ist eine Meinung, die ausschließlich aus zustimmendem Kopfnicken besteht, eine Meinung oder lediglich eine kollektiv-konditionierte Reflexbewegung? Wer sich hier angesprochen fühlt, kann beruhigt sein: Es gibt mittlerweile zahlreiche Wege, sich dem intellektuellen Risiko einer echten Auseinandersetzung zu entziehen. Empörungsmechanismen stehen rund um die Uhr zur Verfügung, und es genügt ein Mausklick, um Unerwünschtes aus dem digitalen Weltbild zu tilgen. Blockieren, Melden, Löschen – die heilige Dreifaltigkeit der neuen Aufklärung.

Freiheit als Gefahrenquelle

Ein beliebtes Argument zur sanften Kastration der Meinungsfreiheit lautet: Sicherheit. Niemand soll verletzt werden. Niemand soll sich unwohl fühlen. Das ist natürlich nobel. Aber hier geschieht eine subtile, fast zärtlich eingesickerte Umdeutung der Grundrechte: Früher ging es darum, den Bürger vor staatlicher Übermacht zu schützen. Heute geht es zunehmend darum, den Bürger vor sich selbst zu schützen. Der Einzelne, so die neue Prämisse, ist ein fragiles Wesen, das bei der ersten Konfrontation mit einer konträren Ansicht unter der Last der Differenz zu Staub zerfällt.

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Wenn man das konsequent zu Ende denkt, ergibt sich eine skurrile Konsequenz: Der Staat schützt nicht mehr den Bürger vor Machtmissbrauch, sondern die Gesellschaft vor der eigenen Diskursfähigkeit. Meinungen sind nicht mehr Gedanken, sondern potenzielle Gefahrenquellen, deren Entschärfung ein Akt der gesellschaftlichen Hygiene ist. Ist das nicht eine wunderbare Welt? Eine Welt, in der man nur noch mit der sanften, pastellfarbenen Zahnbürste des Konsenses an der Realität kratzt, anstatt mit der rohen Klinge der Debatte tief ins Fleisch der Wahrheit zu schneiden?

Die sanfte Diktatur der Wohlmeinenden

Der größte Trick der sanften Zensur ist ihre Zärtlichkeit. Wer würde sich schon gegen den Schutz der „sozialen Harmonie“ aussprechen? Wer möchte sich ernsthaft dagegen wehren, dass Worte vorsichtig abgewogen werden, um keine unerwarteten Explosionen in empfindlichen Geistern zu provozieren? Das Perfide an der gegenwärtigen Entwicklung ist, dass Zensur nicht mehr mit Gewalt durchgesetzt wird, sondern mit Fürsorge. Die neuen Wächter der Meinungsfreiheit sind keine Inquisitoren mit brennenden Scheiterhaufen, sondern freundliche, besorgte Menschen mit sensiblen Gesichtern, die uns leise zuflüstern: „Bist du sicher, dass du das sagen willst?“

Das Ergebnis ist nicht nur eine Entleerung des Diskurses, sondern eine schleichende Infantilisierung der Gesellschaft. Erwachsen sein bedeutet, mit Zumutungen umzugehen. Eine Gesellschaft, die ihren Bürgern das erlassen will, verwandelt sich zwangsläufig in einen Kindergarten mit moralpädagogischer Betreuung. Und wo der Bürger einst Souverän war, ist er heute ein braves Kind, das mit großen Augen zu den neuen Autoritäten aufblickt und hofft, dass es keinen bösen, falschen Satz sagt.

Eine Zukunft für mündige Menschen?

Natürlich kann man all das auch anders sehen. Man kann sich mit den neuen Realitäten arrangieren. Man kann sich in die weichen Kissen der gutgemeinten Zensur sinken lassen und sich darüber freuen, dass die Welt sanfter, geschützter und harmloser wird. Man kann es genießen, dass Debatten nicht mehr kontrovers sind, sondern höflich und rundgeschliffen wie ein Kieselstein am Strand. Man kann sich darauf verlassen, dass alle gefährlichen Gedanken frühzeitig entsorgt werden, bevor sie sich zu Meinungen verfestigen.

TIP:  Österreich 2.0

Man kann das tun.

Aber man sollte nicht so tun, als wäre das noch Freiheit.

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