Die Orchester spielen noch

Wohin steuert die Titanic Europa?

Es gibt Bilder, die sich mit der Zeit aus der Historie in die Köpfe einbrennen, bis sie von reiner Erinnerung zu universalem Symbol mutieren. Die Titanic, im Mondlicht aufschäumend, kurz vor dem unvermeidlichen Kuss mit dem Eisberg, gehört zweifelsohne dazu. Ein Bild, das den Hybris des Fortschritts, die fragile Überheblichkeit menschlicher Ingenieurskunst und den blinden Glauben an die eigene Unbesiegbarkeit in einem einzigen stählern glänzenden Denkmal verdichtet. Und während im Maschinenraum des alten Europas längst Wasser in die Kessel schwappt, klammern sich die Deckpassagiere an den letzten Champagnerkelch der liberalen Illusionen. Die Orchester spielen noch, und sei es nur, um die Schreie zu übertönen.

Wer hat den Kapitän gewählt?

Die Frage nach der Verantwortlichkeit stellt sich in der europäischen Tragödie stets mit einer gewissen Verspätung – und wird bevorzugt in möglichst verschlungenen Passivsätzen beantwortet. Man „habe“ den Kurs eingeschlagen, es „seien“ Entscheidungen getroffen worden, der Markt „verlange“ Maßnahmen. Die politische Klasse, jene unsichtbare Schar an Steuermännern im dunklen Maschinenraum, versteht es meisterhaft, sich als Getriebene zu inszenieren, während sie die Ruder selbst in Händen hält. Wer aber hat diesen unsichtbaren Kapitänen je ein Mandat erteilt? Wer hat Ursula von der Leyen, Christine Lagarde oder Olaf Scholz – die europäischen Piloten des Selbstverständlichen – je direkt an die Kommandobrücke gewählt? Der Passagier der Holzklasse findet sich vor der bitteren Erkenntnis wieder: Demokratie, so scheint es, ist das Recht, alle vier Jahre zwischen mehreren Spielarten der Ohnmacht zu wählen.

Der unsichtbare Eisberg namens System

Gewiss, wer allzu penetrant auf die Schattenseiten des Systems hinweist, wird schnell als Verschwörungstheoretiker disqualifiziert – ein Wort, das sich der europäische Diskurs in den letzten Jahren mit einer bedenklichen Gier einverleibt hat. Doch die eigentliche Verschwörung geschieht ganz ohne Geheimlogen oder Rauchersalons. Sie heißt „Sachzwang“, „Marktkonformität“ und „Alternativlosigkeit“. Der Eisberg ist kein Zufallsprodukt, sondern eine geopolitisch-ökonomische Notwendigkeit, die auf dem Schiffsmanifest von Anfang an mitgeführt wurde. Niemand hat den Eisberg gewählt – aber er ist die unvermeidliche Konsequenz eines Kursbuchs, dessen Seiten von Banken, Konzernen und Think Tanks mit sanfter Hand geschrieben wurden.

TIP:  Das große Schweigen

Der Untergang als choreografierte Inszenierung

Natürlich wird auch dieser Untergang kein plötzlicher Knall sein, sondern ein wohldosierter, in Brüsseler Arbeitsgruppen präzise vorgedachter Abstiegsprozess. Es wird Rettungspakete geben, Gipfelbeschlüsse, Stabilitätsmechanismen, Green Deals, digitale Zentralbankwährungen und eine lückenlose Überwachung zur Wahrung der Freiheit. Jede neue Katastrophe wird mit der Präzision eines Opernlibrettos inszeniert, jedes Härtefall-Programm als Akt der Humanität gefeiert, während der Wasserpegel in den unteren Decks stetig steigt. Das Personal von EU-Kommission, EZB und Weltwirtschaftsforum hat sich längst mit dem Untergang arrangiert – man plant nur noch die Eleganz des finalen Aufpralls.

Ironie als letzte Rettungsweste

Und was bleibt dem Passagier, der sein Ticket zur Post-Demokratie wider Willen gelöst hat? Die Hoffnung auf Rettungsboote? Die wurden längst in den ersten Klassen verstaut. Die Option, sich an der nächsten Wahlurne ein besseres Schicksal zu erhoffen? Ein mildes Lächeln. Es bleibt nur die Ironie – diese dünne, zynische Rettungsweste, die in der Lage ist, den Untergang wenigstens mit einem Anflug von Würde zu begleiten. Der europäische Geist, der sich Jahrhunderte lang in Aufklärung, Kritik und Humanismus erschöpfte, wird seine letzte Reinkarnation wohl als bitter lachender Clown erleben.

Die Hoffnung stirbt synchron mit der Batterie des Blackbox-Rekorders

Vielleicht, wenn die Trümmer des alten Kontinents längst von den Wellen verschlungen sind, wird sich eine neue Besatzung an den Wiederaufbau wagen. Vielleicht wird man die Blackbox bergen und die letzten Funksprüche auswerten. Und vielleicht wird sich dann in einem vergilbten Datenstrom ein lakonischer Kommentar aus der Holzklasse wiederfinden: „Wir haben es doch gewusst – aber das Orchester spielte so schön.“

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