
Die Wiederauferstehung des Bußrituals im digitalen Zeitalter
Die Geschichte wiederholt sich bekanntlich als Farce, und selten lässt sich diese Binsenweisheit so wunderbar unter Beweis stellen wie beim Phänomen der sogenannten „Trusted Flagger“. Wer nun an unscheinbare, hilfsbereite Personen denkt, die uns sanft auf die Einhaltung digitaler Regeln hinweisen, der liegt genauso falsch wie jemand, der glaubt, die Hexenverbrennungen des Mittelalters hätten mit Gerechtigkeit zu tun gehabt.
Stattdessen sehen wir uns einer neuen Klasse von Akteuren gegenüber, die sich mit Flaggen bewaffnet durch die Weiten des Internets bewegen, als wären sie die letzten Ritter der digitalen Moral. Sie haben weder die Schwerter noch den edlen Sinn der alten Ritterorden, aber was sie haben, ist die Macht, alles, was ihnen verdächtig erscheint, mit einem Klick zu brandmarken. Diese digitalen Inquisitoren, von der Regierung freundlich als „vertrauenswürdige Kennzeichner“ bezeichnet, erinnern uns in ihrer Strenge und Kompromisslosigkeit an eine ganz andere Gruppe, die sich im Mittelalter durch Peitschen und Selbstgeißelung einen Namen gemacht hat: die Flagellanten.
Der Flagellantismus kehrt zurück – diesmal im Netz
Wer waren diese Flagellanten, von denen wir hier so polemisch und dennoch wohlwollend die Brücke zu den Trusted Flaggern schlagen? Im 14. Jahrhundert, als die Pest wütete und die Menschheit verzweifelt nach Erklärungen für das unaufhaltsame Sterben suchte, trat eine Bewegung von selbsternannten Büßern auf den Plan. Bewaffnet mit Peitschen und inbrünstigen Gebeten marschierten sie durch die Straßen Europas, ihre Körper blutend und ihre Seelen erfüllt vom Glauben, dass ihre Selbstgeißelung die Sünden der Welt tilgen und die Katastrophen abwenden könne.
Die „Trusted Flagger“ des 21. Jahrhunderts haben die Peitschen gegen Maus und Tastatur eingetauscht, aber das Prinzip ist dasselbe geblieben. Statt mit körperlichem Schmerz tilgen sie die „Sünden“ des Internets: Fake News, Hassrede, Desinformation, ja, vielleicht sogar Ironie – wer weiß das schon so genau. Was zählt, ist der Akt der Zensur, des Markierens, des „Flaggens“ all dessen, was als anstößig, bedenklich oder schlichtweg unerwünscht gilt. Der Unterschied? Diesmal geißeln sie nicht sich selbst, sondern die Inhalte anderer.
Die Regierung outsourced das Gewissen
Man muss der Regierung eins lassen: Wenn es um die Auslagerung unangenehmer Aufgaben geht, ist sie ein wahrer Meister. Früher musste der Staat selbst als Zensor auftreten, was zwangsläufig die düsteren Erinnerungen an DDR und Stasi wachrief. Das wollte man natürlich vermeiden. Aber keine Sorge, wie in jeder guten Tragödie, gibt es auch hier eine Wendung – die Zensur wird einfach privatisiert. „Trusted Flagger“, so heißt das Zauberwort. Ein scheinbar harmloser Begriff, der in Wirklichkeit nach Zensur schreit, aber so hübsch in der neoliberalen Sprache der Effizienz und Dezentralisierung verpackt ist, dass es kaum auffällt.
Was bedeutet das konkret? Nun, die Regierung selbst möchte nicht der Buhmann sein, also überlässt sie es externen Akteuren, die digitale „Sauberkeit“ zu gewährleisten. NGOs, Unternehmen und „besonders vertrauenswürdige“ Einzelpersonen übernehmen die Rolle der digitalen Sittenwächter. Natürlich handelt es sich hierbei nicht um offizielle Zensur – das wäre ja, Gott bewahre, undemokratisch! Nein, das Ganze wird in den freundlichen Begriff des „Flaggens“ gehüllt, als sei es ein harmloses Spiel, bei dem ein kleines Fähnchen auf die dunklen Ecken des Internets gesetzt wird, um die anderen vor der Unreinheit zu bewahren.
Das Problem? Sobald eine Flagge gehisst wird, sind Inhalte oft schneller verschwunden als man „Meinungsfreiheit“ sagen kann. Was früher dem Urteil eines Zensors vorbehalten war, liegt nun in den Händen dieser digitalen Flagellanten, die sich mit heiliger Inbrunst ihrer Aufgabe widmen, das Internet „besser“ zu machen – zumindest nach ihren eigenen, sehr spezifischen Maßstäben.
Die Flagge des Fortschritts oder der Tod der Freiheit
Man könnte meinen, dass eine Bewegung, die sich dem Schutz vor „Hassrede“ und „Desinformation“ verschrieben hat, doch eigentlich nur das Beste will. Und genau das ist die größte Gefahr. Nichts ist schlimmer für eine freie Gesellschaft als Menschen, die glauben, sie würden im Namen des Guten handeln, und deshalb keinerlei Zweifel an der Richtigkeit ihres Tuns haben. Die Trusted Flagger sehen sich als die Retter des digitalen Diskurses, die die giftigen Schlangen des Internets unschädlich machen wollen – doch oft genug ist ihr Urteil willkürlich und subjektiv.
Was sie dabei nicht bedenken: Wer bestimmt eigentlich, was „Hassrede“ ist? Wann wird aus einer Meinungsäußerung Desinformation? Wo endet die Satire und beginnt die Hetze? Die Grenzen sind fließend, und genau hier wird es gefährlich. Im Eifer des Gefechts werden immer häufiger Inhalte gebrandmarkt und entfernt, die vielleicht nur eine unbequeme Wahrheit aussprechen, die man nicht hören will. Die Trusted Flagger sind in diesem Sinne die modernen Torwächter der Meinungsfreiheit – und wir alle sind darauf angewiesen, dass sie ihren Job nicht allzu ernst nehmen.
Eine moderne Inquisition – diesmal mit Algorithmus
Die Flagellanten des Mittelalters hatten wenigstens noch die Gnade, sich selbst zu geißeln, bevor sie andere belehrten. Die Trusted Flagger dagegen haben keinen Grund zur Buße. Sie arbeiten oft im Hintergrund, unsichtbar, und ihre Entscheidungen werden durch Algorithmen automatisiert. Ein Klick hier, ein Klick da – und schon wird ein Beitrag markiert, eine Diskussion gelöscht oder ein Profil gesperrt. Der moderne Flagellant muss sich nicht mehr die Mühe machen, selbst zu urteilen, das übernehmen die Programme für ihn.
Das Paradoxe? Der freie Meinungsaustausch, der das Internet einst zu einem Ort der offenen Diskussion machte, wird immer stärker eingeschränkt, während sich die digitalen Geißler in ihrer Selbstgerechtigkeit sonnen. Alles natürlich im Namen des „Guten“, im Dienst des „Fortschritts“ – wie sollte es auch anders sein? Und während die Flaggen gehisst werden und die Inhalte verschwinden, bleibt uns nur ein schales Gefühl: Die Freiheit, für die das Internet einst stand, löst sich langsam in Wohlgefallen auf.
Die Zukunft der digitalen Bußrituale
Wohin führt das alles? Werden die Trusted Flagger irgendwann so mächtig sein, dass sie über jede Äußerung im Netz wachen? Oder wird es am Ende ein Gegenschlag geben, eine digitale Rebellion gegen die Flaggenheere, die das Internet in ein steril bereinigtes Schlachtfeld verwandeln wollen? Es bleibt abzuwarten. Was wir jedoch mit Sicherheit sagen können: Die digitalen Flagellanten werden uns weiterhin das Leben schwer machen – und wir können nur hoffen, dass sie nicht zu oft daneben schlagen.
Denn eines ist sicher: Wenn der Zensurstab einmal in die Hände solcher „Vertrauenspersonen“ gelegt wird, dann ist die Grenze zwischen der berechtigten Ahndung von Verstößen und dem überzogenen Drang zur Kontrolle schneller überschritten, als man es sich in den kühnsten Dystopien ausmalen könnte. Am Ende bleibt uns nichts anderes übrig, als weiterhin kritisch zu bleiben – und uns immer wieder daran zu erinnern, dass Meinungsfreiheit nicht bedeutet, nur das zu hören, was wir mögen.
Quellen und weiterführende Links
- Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Suhrkamp Verlag, 1977.
- Habermas, Jürgen: Der Strukturwandel der Öffentlichkeit. Suhrkamp Verlag, 1962.
- Zuboff, Shoshana: The Age of Surveillance Capitalism. PublicAffairs, 2019.
- Kittler, Friedrich: Grammophon, Film, Typewriter. Brinkmann & Bose, 1986.
- Dean, Jodi: Blog Theory: Feedback and Capture in the Circuits of Drive. Polity Press, 2010.