Die moralische Großmacht und ihr kleiner Bruder

Es gibt Dinge, die sich einfach gehören. Zum Beispiel, dass der große Bruder dem kleinen gelegentlich eine helfende Hand reicht. Sei es auf dem Schulhof, wenn die bulligen Jungs aus der Parallelklasse Ärger machen, oder in den dunklen Gassen des globalen Cyberspace, wenn sich finstere Gestalten herumtreiben. Und so kommt es, dass Deutschland – das Land, das keine Bahnen pünktlich rollen lassen kann – sich in moralischer Überlegenheit übt, wenn der amerikanische Geheimdienst Informationen über Terrorzellen oder pädophile Netzwerke übermittelt.

Denn der große Bruder ist nicht nur Beschützer, sondern auch Störenfried. Und wenn er dann mal wieder bei der Münchner Sicherheitskonferenz nicht nur über die üblichen geopolitischen Nebelkerzen philosophiert, sondern tatsächlich einen Standpunkt äußert, der nicht mit den Berliner Salondogmen übereinstimmt, dann ist das ein Eklat. „Das geht ihn nichts an!“, ruft dann der Vizekanzler, als hätte Onkel Sam sich unerlaubt am Plätzchenteller bedient.

Der große Bruder als Nervensäge

Natürlich wäre es eine wunderbare Welt, in der sich jeder nur um seinen eigenen Kram kümmert. Der Amerikaner macht Amerika, der Deutsche macht Deutschland – und die Chinesen kaufen alles auf, was übrig bleibt. Leider funktioniert das nicht. Man stelle sich vor, Washington würde Habecks Wunsch einfach wörtlich nehmen: Keine nachrichtendienstliche Kooperation mehr, keine militärische Schutzschirme, keine Wirtschaftssanktionen gegen jene Staaten, die Deutschland in seiner ewigen Gutmütigkeit gern mit kritischen Infrastrukturprojekten ausstattet. „It’s none of our business“, könnte Donald Trump sagen, während in Berlin das große Zittern beginnt.

Aber ach, das wäre ja auch nicht recht. Dann würde sich ein empörter SPIEGEL-Artikel an den nächsten reihen: „Die USA ziehen sich aus Europa zurück – droht ein neues 1914?“ oder „Wie uns die Ignoranz der Amerikaner in die nächste Krise stürzt.“ Egal, was der große Bruder tut – er macht es verkehrt.

Das hohe Ross und seine Tücken

Die moralische Überlegenheit ist eine tückische Droge. Wer einmal von ihr gekostet hat, will nie wieder davon los. Sie erlaubt es, mit gerümpfter Nase über diejenigen zu richten, die in weniger glücklichen Verhältnissen aufgewachsen sind. Sie befähigt deutsche Politiker, Washington darüber zu belehren, dass der Kapitalismus böse, soziale Gerechtigkeit hingegen ein Naturgesetz sei – während man sich gleichzeitig über jede neue Tesla-Fabrik freut. Und sie führt dazu, dass ein deutscher Vizekanzler einem US-Vizepräsidenten rät, sich um seinen eigenen Kram zu kümmern, ohne zu merken, dass dieser Kram uns alle betrifft.

TIP:  Zwischen normativer Verheißung und institutioneller Realität

Vielleicht, nur vielleicht, wäre es an der Zeit, einmal kurz innezuhalten und sich zu fragen, ob man wirklich in der Position ist, dem großen Bruder Lektionen zu erteilen. Denn eines ist sicher: Wenn es hart auf hart kommt, werden die moralischen Prinzipien ganz schnell durch die Realität eingeholt. Und dann wird wieder dieselbe alte Platte aufgelegt: „Warum haben die Amerikaner nicht früher eingegriffen?“

Please follow and like us:
Pin Share