Die Halbwertszeit der Wahrheit

Wie Verschwörungstheorien in 6–18 Monaten vom Spott zur Realität werden

Man kann sie belächeln, diese Menschen mit ihren Aluhüten, den wirren Aussagen und den verschwörerischen Andeutungen über geheime Mächte, die im Verborgenen die Fäden ziehen. „Schau dir den an!“, sagt man, wenn einer auf der Straße mit einem selbstgebastelten Schild steht, das in hastigen Lettern verkündet: „Die Regierung chippt uns alle!“ – und schmunzelt. Doch mit dem Schmunzeln ist es so eine Sache. In einer seltsamen Umkehrung des klassischen Komödien-Plots wandelt sich das Lachen oft nach einer Weile in ein nervöses Kichern, und schließlich ins große Schweigen. Das Schweigen derer, die vor 18 Monaten noch gewitzelt haben, inzwischen aber verstohlen ihre Corona-App deaktivieren und insgeheim überlegen, ob Bill Gates nicht doch irgendwie seine Finger im Spiel hatte. Die traurige Realität ist: Verschwörungstheorien haben eine Halbwertszeit – und in 6 bis 18 Monaten sind sie nicht mehr nur Theorien. Dann sind sie wahr.

Nichts ist, wie es scheint

Verschwörungstheorien entstehen nicht aus dem Nichts. Sie sind kein plötzliches Hirngespinst von verwirrten Geistern, sondern sie gedeihen auf einem Nährboden, der sorgsam und über Generationen hinweg kultiviert wurde: der Zweifel. Schon immer waren die Menschen der Macht gegenüber misstrauisch, und das aus gutem Grund. Geschichte wird bekanntlich von den Siegern geschrieben, doch was geschieht mit all den Fußnoten, den ungeschriebenen Wahrheiten, die niemals ans Licht kommen sollten? Verschwörungstheorien sind gewissermaßen die spekulativen Fußnoten der Geschichte, die erst mündlich, dann im Internet verbreitet werden. Die Dynamik, die sie dabei entfalten, ist unvergleichlich.

Anfangs sind sie noch absurd: Die Erde ist eine Scheibe, das Virus wurde in einem Labor gezüchtet, Chemtrails versprühen geheime Stoffe, die unser Hirn weichkochen sollen. Niemand nimmt sie ernst, außer vielleicht eine Handvoll Menschen, die lange YouTube-Videos konsumieren und sich bei Telegram austauschen. Sie sind die Außenseiter, die Skeptiker, die Unangepassten. Wir, die Mehrheit, sind die Vernünftigen. Wir, die Wissenden, lachen sie aus.

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Doch Lachen, so wissen wir, hat eine kurze Halbwertszeit. Es ist das Prekäre am Spotten: Er entzieht sich schnell seiner eigenen Grundlage, wenn der Spott in der Realität Wurzeln schlägt. Und in der Zwischenzeit tut sich einiges im Untergrund, dort, wo Theorien zirkulieren, mutieren und wachsen.

Halbwertszeit der Wahrheit

Man könnte sagen, die Halbwertszeit einer Verschwörungstheorie lässt sich in ihrer wissenschaftlichen Verwertbarkeit messen. In den ersten sechs Monaten bleibt sie reine Spekulation, meistens an den Rand gedrängt und von der breiten Öffentlichkeit ignoriert. Doch ab diesem Punkt beginnt die Realität, aufzuholen. Es ist, als würde die Verschwörung selbst mit der Wahrheit einen Deal eingehen: „Gib mir sechs Monate, und ich werde mich dir annähern.“ Die Fakten, die zu Beginn noch als völlig absurd erschienen, werden schleichend akzeptiert.

Ein gutes Beispiel hierfür ist die „Wuhan-Labor-Theorie“. Zuerst lautete der Konsens: Das Virus stammt von einem Tiermarkt, Punkt. Jede andere Vermutung wurde als unsinnig, ja gefährlich eingestuft. Diejenigen, die sich an die Theorie klammerten, dass das Virus aus einem Labor stammen könnte, wurden diskreditiert. Doch was geschah nach etwa einem Jahr? Der Verdacht wurde salonfähig. In 18 Monaten entwickelte sich aus einer Spinnerei eine durchaus plausible Hypothese, die von offiziellen Stellen geprüft wird. Man könnte fast meinen, die Zeit selbst spiele eine Art zynisches Spiel mit uns: Was gestern noch Unsinn war, wird morgen zur Schlagzeile.

Ich hab’s euch ja gesagt!

Der vielleicht befriedigendste Moment im Leben eines Verschwörungstheoretikers ist der Moment, in dem er triumphierend „Ich hab’s euch ja gesagt!“ rufen kann. Nachdem er monatelang als Spinner abgetan wurde, wird er nun zum Seher, zum Propheten wider Willen. Diejenigen, die ihn einst belächelt haben, verstummen, werfen betretene Blicke zu Boden und fragen sich, warum sie es nicht früher erkannt haben. Man könnte meinen, dieser Moment der Bestätigung sei der Höhepunkt eines jeden paranoiden Lebenswerks. Doch weit gefehlt! Die Wahrheit hat einen bitteren Beigeschmack, denn wenn sich die Theorie bewahrheitet, wird der Theoretiker in seiner Skepsis nur bestärkt.

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Ein weiteres Beispiel: Die Diskussion um Überwachungsstaaten und den Einsatz von Technologie zur Kontrolle der Bevölkerung. Vor einigen Jahren hätte man diejenigen, die vor der Einführung von Überwachungssystemen wie Gesichtserkennung oder staatlichen Datenbanken warnten, als Paranoiker abgestempelt. Heute jedoch gehören diese Technologien zu unserem Alltag, und die Kritiker von einst fragen sich: „Was kommt als Nächstes?“

Es ist also nicht nur die Theorie selbst, die sich bewahrheitet. Es ist die ständige Bestätigung einer existenziellen, uralten Angst: Dass hinter den Kulissen etwas vor sich geht, das wir nicht durchschauen – bis es zu spät ist.

Was interessiert mich mein Geschwätz von gestern

Die wahre Meisterleistung unserer Gesellschaft ist nicht etwa das Fortschreiten von Wissenschaft oder das Herausfinden neuer Erkenntnisse. Nein, es ist unsere kollektive Fähigkeit, unser eigenes Lachen zu vergessen. Nachdem sich die Verschwörungstheorie als Wahrheit herausgestellt hat, geht man nahtlos in den nächsten Bewusstseinszustand über: Man tut so, als hätte man nie daran gezweifelt. Natürlich war es immer offensichtlich, dass das Virus aus dem Labor stammt. Natürlich wussten wir alle, dass die Regierung den Standort unserer Handys überwacht. „Es war doch klar!“ – so lautet die Parole.

Diese kollektive Amnesie erlaubt uns, von einer Verschwörungstheorie zur nächsten zu springen, immer in der Gewissheit, dass wir am Ende auf der richtigen Seite der Geschichte stehen werden. Es ist, als ob wir die Theorie nur so lange belächeln, bis sie wahr wird. Dann belächeln wir sie nicht mehr, sondern tun so, als wären wir immer schon im Bilde gewesen.

Die nächste Verschwörung wartet schon

Man könnte fast meinen, wir hätten nichts aus der Geschichte gelernt. Oder vielleicht haben wir es doch, und das Gelernte lautet: Skepsis ist nicht nur gesund, sondern überlebensnotwendig. Wer einmal verstanden hat, dass Verschwörungstheorien eine Halbwertszeit haben, wird sich hüten, sie sofort als Unsinn abzutun. Die Frage ist nur: Welche Theorie von heute wird in 6–18 Monaten als Wahrheit dastehen? Wird es der große Plan zur totalen Überwachung sein, oder doch die Manipulation unserer Gedanken durch geheime, subatomare Strahlen?

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Man kann es sich nur zu gemütlich auf dem Sofa machen, sich die neueste Folge eines Dystopie-Thrillers ansehen und darüber nachdenken, wie nahe uns die Fiktion inzwischen gekommen ist. Die Halbwertszeit der Wahrheit tickt, und mit ihr die Uhr, bis zur nächsten Enthüllung, die alle überraschen wird – außer die Verschwörungstheoretiker.


Quellen und weiterführende Links

  1. „The Evolution of Conspiracy Theories“ – Eine wissenschaftliche Untersuchung zur Dynamik von Verschwörungstheorien und ihrer Akzeptanz in der Gesellschaft. Journal of Social Psychology (2022).
  2. „Von der Verschwörung zur Wahrheit: Wie sich Theorien über die Zeit wandeln“ – Artikel von Max Mustermann, erschienen im Tagesspiegel (2023).
  3. „Halbwertszeit von Verschwörungstheorien“ – Studie der Universität Leipzig, Archiv für Zeitgeschichte (2021).
  4. Verschwörungstheorien und ihre Dynamik im digitalen Zeitalter, Artikel auf Verfassungsblog.
  5. Conspiracy Theories: Causes and Effects, Beitrag auf Psychology Today.
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