Die dressierte Mehrheit

oder: Warum wir gerne die Geisel sind

Der Mensch ist ein erstaunliches Wesen. Er baut Kathedralen, komponiert Symphonien, entschlüsselt das Genom – und legt gleichzeitig in vorauseilendem Gehorsam die eigene Mündigkeit auf den Altar der Bequemlichkeit. Er hätte denken können, aber er hat lieber geklickt. Er hätte widersprechen können, aber er hat sich einen Kaffee gemacht. Der Aufstand bleibt aus, weil der Bildschirm leuchtet.

Der Beherrschte von heute ist kein Sklave mehr, sondern ein Kooperationspartner in seiner eigenen Entwürdigung. Der Kniefall wird als Yoga-Übung verkauft, und man bedankt sich noch beim Trainer für die Anleitung. Statt Fesseln gibt es Compliance-Schulungen, statt Peitschen Toleranz-Workshops. Wer widerspricht, ist nicht mehr der Rebell, sondern der Störer der Prozessabläufe. Und Prozesse müssen fließen, wie wir wissen. Alles muss laufen, sogar der Verstand – den Bach runter, natürlich.

Die Geisel liebt ihren Zustand, solange es WLAN gibt und der Kühlschrank voll ist. Das nennt man dann Fortschritt.

Die totalitäre Wellnesszone

Der klassische Tyrann verlangte Gehorsam, der neue Tyrann verlangt Zustimmung. Es reicht nicht mehr, zu schweigen – man muss begeistert sein. Wer heute nicht mitklatscht, wird gesperrt, gelöscht, ausgegrenzt. Nicht durch die Polizei, sondern durch das Kollektiv der braven Bürger, die in ihren Filterblasen hocken wie unter Tupperdeckeln: luftdicht abgeschlossen, aber hygienisch korrekt.

Die Herrschaft von heute ist ein Spa-Erlebnis. Überall warme Worte, sanfte Stimmen, beruhigende Apps. Die totale Überwachung wird als Gesundheitsschutz verkauft, der totale Konsum als Selbstverwirklichung. Das ist der Endzustand der modernen Gesellschaft: die perfekte Kombination aus Übergriffigkeit und Kuschelfaktor. Der Orwell’sche Big Brother ist passé – jetzt gibt es Big Mother. Und Mutter weiß bekanntlich, was gut für dich ist. Ob du willst oder nicht.

Der Konsument als Kastrat

Ein aufrechter Mensch könnte rebellieren, aber dazu müsste er erst mal aufhören, Pakete zu bestellen. Der Konsument ist der perfekte Untertan: Er möchte nichts wissen, nur kaufen. Der gläserne Bürger schreit nach Datenschutz, während er mit seiner Smartwatch seine Herzfrequenz an Versicherungen übermittelt. Die totale Kontrolle wird freiwillig eingerichtet – mit Alexa, Siri und Google Pay. Der Kühlschrank weiß mehr über den Menschen als der eigene Partner.

TIP:  Die Verlorene Kunst des Differenzierens

Die Konsumgesellschaft hat den Menschen auf seine primitivste Funktion reduziert: fressen, klicken, liken, nicken. Aufklärung war gestern. Heute ist Prime Day.

Die Medien: Der betreute Gedankenraum

Die Presse, einst der „vierte Stand“, ist längst zum Erfüllungsgehilfen der Herrschaft geworden – allerdings im bunten Kostüm. Journalismus heute heißt nicht mehr, den Mächtigen auf die Finger zu schauen, sondern den Beherrschten zu erklären, warum sie die Finger nicht heben sollen. Man nennt das dann Haltungsjournalismus, weil es sich besser verkauft als Hofberichterstattung. Der Unterschied? Früher wurde der König bejubelt, heute wird das System beworben – und wer nicht mitmacht, ist „rechts“, „radikal“, „asozial“, „Gefährder“, „Verschwörer“, „Delegitimierer“. Wörter wie Keulen, in industriellem Maßstab gefertigt.

Die Medien betreiben heute kein Informationsgeschäft mehr, sondern eine Dauertherapie der Massen. Der Bürger wird nicht informiert, sondern sediert. Nachrichten sind Wellness fürs Gehirn: leicht bekömmlich, gut verdaulich, vorgekaut. Der Rest ist Propaganda, aber in vegan.

Der Staat als pädagogische Anstalt

Früher wollte der Staat Steuern, heute will er dein Gewissen. Er will dich nicht mehr nur kontrollieren, er will dich verbessern. Der Bürger wird umgeformt, neu kalibriert, standardisiert – auf Linie gebracht, freundlich natürlich, mit pädagogischem Lächeln. Man nennt das dann Wertevermittlung. Das Ergebnis ist ein moralisch gestanzter Einheitsmensch mit CO₂-Fußabdruck-Scham, politisch korrekter Sprachfilterung und einem Dauerschuldgefühl, das sich hervorragend als Herrschaftsinstrument eignet.

Die totale Übereinstimmung zwischen Beherrschten und Herrschenden ist kein Versehen, sondern Staatsziel. Der perfekte Bürger klagt nicht mehr über Gängelung, sondern bittet um mehr davon. Der neue Untertan möchte nicht befreit werden, sondern optimiert.

Das Ende der Zivilisation als Event mit Buffet

Man könnte meinen, das sei alles schlimm. Aber nein – es ist schlimmer: Es wird als Fortschritt gefeiert. Der Untergang wird heute nicht mehr befürchtet, sondern gebucht. Inklusive Bio-Catering und Genderseminar.

Die Gesellschaft zerfällt nicht, sie wird Event-isiert. Das Ende der freien Rede wird mit Diversity-Workshops flankiert, der Verfall der Kultur mit Influencer-Kampagnen beworben. Der Bürger konsumiert den eigenen Verfall als Serie auf Netflix und bestellt sich dazu noch Sushi. Während die Welt brennt, wird noch schnell der Thermomix geliefert.

TIP:  ... und dann ist alles gut

Letzter Aufruf zum Untergang: Bitte anschnallen

Was bleibt? Nichts, außer einem zynischen Lächeln. Man könnte versuchen, aufzuwachen, aber wozu? Der Schlaf der Massen ist so komfortabel eingerichtet, dass der Wecker als Angriff empfunden wird. Die Geisel will nicht befreit werden, sondern in Ruhe gelassen – in Ruhe weiter konsumieren, weiter glauben, weiter klatschen. Das Stockholm-Syndrom hat gesiegt, weil es so bequem ist.

Vielleicht war die Freiheit sowieso nur ein Betriebsunfall der Geschichte.

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