
Es war einmal eine Welt, in der der Ausdruck „die Kirsche auf der Torte“ ein Symbol war – nicht nur für das Übermaß, für das i-Tüpfelchen, für das kleine, süße Extra, das dem ohnehin schon überbordend Wohlgeratenen noch einen finalen Hauch von Perfektion verlieh, sondern auch für eine Kultur, die wusste, was ihr schmeckte. Heute hingegen: Die Dattel auf dem Kebbab. Trocken, schrumpelig, orientalisch verbrämt, süßlich-klebrig – und vor allem: deplatziert. Doch sie sitzt da, thronend auf einem Fleischspieß, der längst nicht mehr weiß, ob er Speise, Symbol oder politisches Statement ist. Die Dattel ist keine Verheißung, sie ist eine Zumutung. Und sie ist das Signum unserer Zeit.
Die Ästhetik des Unpassenden
Wir leben in einer Epoche, in der nicht mehr das Stimmige gesucht, sondern das Schräge gefeiert wird. Was einst als Dissonanz galt, wird heute als subversive Tiefe verklärt. Ironie, einst das edle Instrument des feinsinnigen Zweifels, ist zum Vorschlaghammer der Selbstgerechtigkeit verkommen. Und so ziert die Dattel nicht nur den Kebbab, sondern auch die Debatte, die Politik, die Kunst, den Diskurs – kurzum: alles, was sich einst der Kohärenz verpflichtet fühlte.
Man will nicht gefallen, man will verstören. Man will nicht überzeugen, man will provozieren. Die Dattel ist dabei Symbol und Symptom zugleich. Sie ist nicht die Frucht einer geschmacklichen Entscheidung, sondern die Karikatur eines Geschmacksurteils. Ihr Platz auf dem Spieß ist kein kulinarischer Einfall, sondern ein Statement: „Seht her, ich bin anders!“ Nur leider: Das Anderssein um des Andersseins willen ist eben noch kein Inhalt. Es ist Pose. Und nichts ist ermüdender als Pose, wenn sie sich für Wahrheit hält.
Die Tyrannei des Besonderen
In dieser Dattel steckt auch ein Anspruch: der Anspruch, einzigartig zu sein. Authentisch, divers, edgy – das Vokabular der Gegenwart sabbert vor Begeisterung über das Besondere, das Andere, das Fremde. Doch in Wahrheit hat das Streben nach Individualität nur zur Uniformität des Exzentrischen geführt. Jeder will die Dattel sein, keiner die Torte. Jeder will auffallen, keiner will passen.
Was früher als gekonntes Understatement galt – etwa das noble Beige eines maßgeschneiderten Mantels –, wird heute übermalt von grellen Farben und schrillen Mustern, die schreien: „Ich bin nicht wie ihr!“ Und doch sind sie alle gleich in ihrem Bemühen, nicht gleich zu sein. Die Dattel auf dem Kebbab ist das kulinarische Pendant zur Einhorn-Leggings mit Bio-Siegel und ironischem Hitlerbart.
Vom Verlust des Maßes
Die Dattel ist aber nicht nur Symbol des schlechten Geschmacks, sie ist auch das Denkmal des entgrenzten Maßes. In einer Welt, die kein Zentrum mehr kennt, sondern nur noch Ränder, wird jedes Detail zur Hauptsache, jede Abweichung zur Tugend. Die Dattel wird nicht gefragt, ob sie zum Fleisch passt – sie wird gefeiert, weil sie nicht passt. Man klatscht Beifall für den Bruch, für die Irritation, für das Aus-der-Reihe-Tanzen, auch wenn dabei niemand mehr weiß, was eigentlich die Reihe war.
Der Verlust des Maßes ist nicht etwa ein bedauerlicher Kollateralschaden, er ist Programm. Maß, das klingt nach Ordnung, nach Regel, nach Norm – alles Begriffe, die man mit hysterischem Furor aus der Debatte verbannt hat. Übrig bleibt das Kaleidoskop der Bedeutungsfragmente, in dem sich alles spiegelt und nichts mehr erkenntlich wird. Die Dattel auf dem Kebbab ist der Triumph der Beliebigkeit über das Urteil, der Triumph des Gimmicks über das Gelungene.
Postmoderne Pseudo-Tiefe und andere Sauereien
Natürlich könnte man die Dattel auf dem Kebbab auch „deuten“ – als symbolische Umarmung der Kulturen, als interkulturellen Dialog auf Spießhöhe. Solche Deutungen hört man oft. Sie kommen aus jenen Mündern, die auch ein leerstehendes Einkaufszentrum für eine „interaktive Rauminstallation“ halten. Denn in einer Welt, in der Bedeutung nicht gefunden, sondern behauptet wird, genügt es, laut genug zu behaupten.
So wird aus dem Zufall ein Konzept, aus dem Kitsch ein Kanon, aus dem peinlichen Fehlgriff ein politisches Statement. Alles ist diskursiv aufladbar, alles wird kunsttheoretisch rückversichert, alles ist bedeutungsschwanger, nur um sich am Ende als Kaisers neue Kleider zu entpuppen – aus Second-Hand-Stoffen, versteht sich. Die Dattel ist nicht mehr Frucht, sondern Narrativ. Und man isst sie nicht, man „erlebt“ sie.