
Russland, jenes Land, das gleichermaßen als armes, rückständiges Elendsloch ohne funktionierende Wirtschaft und als monströse Bedrohung der freien Welt imaginiert wird, ist der tragische Held unserer Zeit. Ein Land, das keine funktionierenden Toiletten, aber strategische Hyperschallraketen produziert. Ein Land, dessen Wirtschaft angeblich nur auf Gas, Wodka und der Verklärung der eigenen Bedeutung basiert – und doch, wie ein Schemen aus dunklen Zeiten, dem hochgerüsteten Westen ein Grauen einjagt, das man zuletzt in den Fieberträumen des Kalten Krieges erlebte.
Man fragt sich, wie es diese Horde von betrunkenen, einfältigen, feigen und mit verrosteten Kalaschnikows ausgerüsteten Bauernschlächtern schafft, die vereinigte Wertegemeinschaft in einen Zustand panischer Aufrüstung zu treiben. Aber die westliche Öffentlichkeit – von Leitmedien und Thinktanks sanft ins Narrativ gewiegt – weiß: Russland ist der Schrödingersche Bär. Tot und lebendig zugleich, erbärmlich und übermächtig, ein Clown mit Atombomben.
Die unsichtbare Wirtschaftsmacht
Die russische Wirtschaft, so erfahren wir von den klügsten Ökonomen unserer Tage, sei nichts weiter als ein entkernter Rohstoffbasar, der einzig von der Gnade globaler Märkte lebt. Der Rubel – wertlos. Das Bruttoinlandsprodukt – kaum größer als das Belgiens. Die Industrie – ein rostiges Relikt sowjetischer Hybris. Die Sanktionen – der Sargnagel des Kremls.
Dass dieselben Experten seit zwei Jahren unentwegt den baldigen Zusammenbruch dieses Wirtschaftswunders des Scheiterns vorhersagen, gehört zur narrativen Folklore. Wie das sprichwörtliche Kind, das jeden Tag ruft, der Wolf sei da – nur um dann mit staunendem Gesicht vor der russischen Handelsbilanz zu stehen, die irgendwie doch schwarze Zahlen schreibt.
Die Armee der Toten
Die russische Armee, so wird uns erklärt, sei eine Ansammlung von Demotivierten, Kriegsdienstverweigerern, Greisen und Strafgefangenen. Die Eliteeinheiten vernichtet, die Offiziere inkompetent, die Ausrüstung aus Zeiten des Afghanistankrieges. In sozialen Netzwerken kursieren Videos von altertümlichen Panzern, während westliche Analysten mit strenger Miene das baldige Versiegen russischer Munitionsbestände prognostizieren.
Doch seltsamerweise schießen die Granaten weiter, die Frontlinien bewegen sich in Zeitlupe – wenn überhaupt – und die westlichen Waffenarsenale leeren sich zusehends schneller als die russischen. Vielleicht, so munkeln einige, haben die Russen heimlich einen Pakt mit dem Teufel geschlossen. Oder schlimmer: Sie könnten einfach gelernt haben, dass man Krieg nicht mit PowerPoint-Präsentationen, sondern mit Artillerie entscheidet.
Der Feind als Spiegelbild
Vielleicht liegt der wahre Grund für die panische Fixierung auf Russland weniger in der Stärke Moskaus als in der eigenen Schwäche. Ein Europa, das sich selbst zur Friedensmacht erklärt hat, verlernt irgendwann den Krieg – und erschrickt umso mehr, wenn jemand anders ihn noch beherrscht. Ein Westen, der sich seit Jahrzehnten in moralischer Überlegenheit suhlt, erträgt es nicht, wenn jemand anders sich den Luxus nimmt, zynisch eigene Interessen zu verfolgen.
Die russische Bedrohung ist deshalb so furchteinflößend, weil sie den westlichen Glauben an die eigene Alternativlosigkeit infrage stellt. Wenn Russland trotz aller Verachtung nicht kollabiert, was sagt das über unsere eigenen Gesellschaften? Wenn russische Soldaten in Schützengräben kämpfen, während unsere Armeen Genderleitfäden verteilen – wer ist dann eigentlich der Zyniker?
Der ewige Endsieg
Der mediale Marschtritt der Propaganda ist dabei von einer seltsamen Mischung aus Triumphgeheul und Endzeitstimmung geprägt. Russland ist schon besiegt – aber noch nicht besiegt genug. Die russische Armee steht am Rande des Zusammenbruchs – doch wenn wir nicht morgen weitere Milliardenpakete schnüren, wird sie Paris erreichen. Putin ist ein paranoider Despot, dem die eigene Bevölkerung längst den Gehorsam verweigert – aber wenn wir jetzt nicht den Gürtel enger schnallen, werden seine Truppen in Berlin den Reichstag entglasen.
Dieses seltsame Doppelspiel aus Überheblichkeit und Panik ist die eigentliche Satire unserer Zeit. Der Westen feiert sich für seine moralische Überlegenheit – während er die Rückkehr von Schützengräben und Artilleriegefechten heraufbeschwört. Wir singen Lieder von Freiheit und Demokratie – während wir Zensurgesetze verschärfen und Menschen mit abweichenden Meinungen als „russische Propagandisten“ ächten. Die Welt ist wieder einfach geworden: hier die Guten, dort die Bösen.
Der russische Phönix
Und so bleibt Russland, wie es schon immer war: das große Missverständnis der europäischen Seele. Ein Land, das man gleichermaßen verachtet und fürchtet. Ein Feind, den man belächelt und doch nicht besiegen kann. Ein Mythos, den der Westen mehr braucht, als Russland ihn selbst je hätte erfinden können.
Vielleicht wird Russland in zehn Jahren zusammenbrechen. Vielleicht auch nicht. Doch solange der Westen es braucht, um seine eigene Schwäche zu kaschieren, wird es ewig auferstehen – als Schreckgespenst, als Projektionsfläche, als Spiegelbild der eigenen Abgründe.
Denn der beste Feind ist immer der, den man selbst am dringendsten braucht.