DEMOS & KRATOS

Warum eine Demokratie ohne Demokratiekritik nicht denkbar ist

Die Demokratie ist, so möchte man meinen, wie ein alter Freund, der immer wieder zu spät zu Verabredungen kommt. Man weiß, dass er unzuverlässig ist, vergisst aber im Moment des Wiedersehens all seine Fehler, weil er eben doch ein Freund ist. Aber wie lange bleibt er das? Und wie lange können wir uns die Romantik leisten, ohne dass der Zug, den wir so schmerzlich ignorieren, endgültig abfährt? Demokratiekritik ist der Spiegel, den wir diesem Freund vorhalten – oder doch eher ein Meißel, der aus einem Denkmal einen Schutthaufen macht. Kritik ist unverzichtbar, heißt es. Doch wie oft wird sie zur Selbstbeweihräucherung derer, die sie üben?

Demokratie ist das, was wir aus ihr machen – warum die modische Demokratiekritik ihr Ziel verfehlt

Demokratiekritik ist heutzutage so en vogue wie Avocado-Toast und Fairtrade-Kaffee. Sie ist der neue Marktplatz für zynische Intellektuelle, die sich am Stammtisch der Twitter-Bubble über die „Pöbelherrschaft“ auslassen, während sie das Schicksal des Planeten in einem anderen Tab googeln. Doch was ist diese Kritik anderes als ein Produkt der Demokratie selbst? Wir dürfen sie kritisieren, wir sollen es sogar – eine perfide Selbstverteidigungsmaßnahme des Systems, das sich seiner eigenen Immunität rühmt. Aber vielleicht ist das auch ihre größte Schwäche: eine Demokratie, die sich nicht mehr gegen ihre Zersetzung durch ständige Meckerei zu wehren weiß, ist wie ein Festmahl, das von hungrigen Mäulern zerlegt wird, ohne dass je jemand satt wird.

Leben wir überhaupt (noch) in einer Demokratie

Ach, die ewige Gretchenfrage der politischen Philosophie unserer Zeit. „Demokratie“ ist doch längst nur noch ein Label, das wir wie ein überteuertes Designer-Logo auf unsere Institutionen nähen. Ja, wir haben Parlamente, in denen Abgeordnete sitzen, die wir gewählt haben. Aber wenn diese Abgeordneten im Wesentlichen tun, was Lobbyisten oder globale Finanzakteure wie Blackrock und Konsorten diktieren, was bleibt dann von unserem angeblichen Mitspracherecht? Demokratie ist nicht tot – sie ist verpackt, etikettiert und verkauft worden. Sie lebt noch, sagen die Optimisten. Aber wo, fragen wir? In den Echo-Kammern der Privilegierten oder in den Wahlkabinen, in denen wir alle fünf Jahre ein Kreuz setzen, das so viel Einfluss hat wie ein Blatt im Orkan?

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Was zeichnet unsere Demokratie aus, außer alle fünf Jahre Wahlen

Hier könnten wir ja auf die berühmten Werte verweisen: Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte. Und ja, diese Dinge existieren, sie sind wichtig, sie sind gut – zumindest auf dem Papier. Aber schauen wir genauer hin: Wie viel Freiheit hat der prekär Beschäftigte, der zwischen zwei Minijobs jongliert, um seine Miete zu bezahlen? Wie viel Rechtsstaatlichkeit erlebt die alleinerziehende Mutter, die sich durch endlose Anträge im Sozialamt kämpft? Wie viele Menschenrechte genießen Geflüchtete, die an den Grenzen Europas erfrieren, während wir über Bürokratie diskutieren? Unsere Demokratie ist ein wunderbar schillernder Lack, der eine rostige Maschine überdeckt – und wir hoffen, dass niemand den ersten Tropfen Regen bemerkt.

Kann unsere liberale Demokratie überhaupt noch gegen Giganten wie BlackRock bestehen, oder ist sie nur noch ihr freundliches Antlitz

Ah, die liberale Demokratie – dieser Papiertiger mit einem herzlichen Lächeln und einem leeren Sparbuch. Es ist schwer, gegen Giganten wie BlackRock zu bestehen, wenn die Politik sich weigert, ihre Werkzeuge zu schärfen. Was haben wir? Regulierungen, die löchriger sind als ein Schweizer Käse? Politiker, die nach ihrer Amtszeit im Vorstand der Konzerne landen, die sie einst angeblich kontrollieren sollten? Demokratie gegen Kapitalismus – ein Boxkampf, bei dem der Schiedsrichter und der Veranstalter denselben Sponsor haben. Am Ende bleibt uns die Hoffnung, dass der Markt „irgendwie“ alles richten wird – ein verzweifeltes Mantra, das uns wie eine Beruhigungspille über die Schlaflosigkeit des Kontrollverlusts hinweghelfen soll.

Kann man die Entwicklung noch steuern, oder – falls noch nicht zu spät – zurückdrehen

Zurückdrehen? Wie süß. Haben Sie schon einmal versucht, Zahnpasta wieder in die Tube zu bekommen? Die Globalisierung, die Digitalisierung, die Erosion von Mitbestimmung – das alles ist kein Fehler im System, es ist das System. Natürlich gibt es Reformen, die man vorschlagen könnte. Mehr Transparenz, strengere Regeln für Lobbyisten, Volksentscheide. Aber in einer Welt, in der die Medienlandschaft fragmentiert und polarisiert ist, in der Algorithmen Wahlen beeinflussen und in der „alternative Fakten“ Realität werden, wirkt das wie ein Pflaster auf einer Schusswunde. Vielleicht sollten wir aufgeben. Oder vielleicht sollten wir uns auf die uralte Weisheit besinnen, dass der erste Schritt zur Besserung das Eingeständnis ist, dass wir ein Problem haben.

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Und was, wenn wir am Ende angelangt sind, und eine illiberale Demokratie noch das Beste ist, was uns bleibt?

Die illiberale Demokratie – oder wie Orban sagen würde: Demokratie, aber ohne den nervigen Schnickschnack. Wäre das wirklich so schlimm? Vielleicht ist es Zeit, uns ehrlich zu machen. Wollen wir überhaupt noch mitreden? Die Hälfte der Bevölkerung bleibt bei Wahlen ohnehin zu Hause. Vielleicht sind wir zu bequem, zu müde, zu überfordert von einer Welt, die immer komplexer wird. Vielleicht wäre eine autoritär angehauchte Demokratie das, was wir insgeheim schon längst haben – nur ohne die nervige Maske der Liberalität. Manchmal muss man ein Problem zerstören, um es zu retten. Aber wer entscheidet, wann es Zeit ist, das Skalpell anzusetzen?


Quellen und weiterführende Links

  • Buch: David Van Reybrouck – Gegen Wahlen: Warum Abstimmen nicht demokratisch ist
  • Artikel: „Der Markt und die Demokratie – ein ungleicher Kampf“ – Die Zeit
  • Podcast: New Politics: Is Democracy Dying?
  • Website: Democracy Index – Überblick über den Zustand der Demokratien weltweit

Und denken Sie immer daran: Die Demokratie ist nicht tot. Sie riecht nur komisch.

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