Das schaurige Ritual

Franz Josef Strauß (22.11.1986)

1. Akt: Es passiert ein schreckliches Verbrechen

Die Kulisse ist wie immer die gleiche: Ein schreckliches Verbrechen erschüttert die Gesellschaft. Ein Mord, ein Terroranschlag, eine unfassbare Tat, die uns alle aus unserer gemütlichen Gleichgültigkeit reißt. Es ist eine Tragödie, eine Schande, eine Mahnung! Noch sind die Umstände vage, noch gibt es keine gesicherten Erkenntnisse. Aber eines ist sofort klar: Es ist entsetzlich, unfassbar, inakzeptabel! Und natürlich: Wir haben es alle kommen sehen!

2. Akt: Bestürzung / Empörung

Jetzt rollt sie an, die Welle der Betroffenheit. Die Politiker überbieten sich in Beileidsbekundungen, die Medien senden Sondersendungen, die sozialen Netzwerke explodieren vor Empörung. Niemand kann schweigen, niemand darf schweigen. „Unsere Gedanken sind bei den Opfern“, „So etwas darf nie wieder passieren“, „Wir müssen als Gesellschaft zusammenstehen“ – die immergleichen Phrasen hallen durch das mediale Großraumbüro der Empörungsgesellschaft. Und dann, natürlich, die Frage: Wer ist schuld? Ein Schuldiger muss her, am besten sofort! Und während die Ermittlungen noch laufen, stehen die ersten Urteile bereits fest.

3. Akt: Ruf nach harten Maßnahmen

„Das ist die Folge von lascher Politik!“ „Wir brauchen endlich Konsequenzen!“ „Härtere Gesetze, mehr Überwachung, mehr Polizei!“ Die Forderungen fliegen durch die Debatte wie Geschosse auf einem politischen Schlachtfeld. Jeder will entschlossen wirken, jeder will Zeichen setzen. Forderungen nach neuen Verboten, härteren Strafen, umfassenderen Maßnahmen sind die Währung der Stunde. Der Kampf um die schärfste Reaktion hat begonnen. Opposition und Regierung liefern sich ein Wettrennen der martialischen Rhetorik. Die einen kritisieren die anderen dafür, nichts getan zu haben. Die anderen rufen zur nationalen Einheit auf. Doch alle sind sich einig: Es muss endlich etwas geschehen!

4. Akt: Warnung vor Überreaktion

Plötzlich erhebt sich eine mahnende Stimme. „Wir dürfen jetzt nicht in blinden Aktionismus verfallen.“ „Wir müssen besonnen bleiben!“ „Panik ist kein guter Ratgeber.“ Experten werden eingeladen, Analysen werden präsentiert, Differenzierungen werden gefordert. Ein paar Journalisten geben zu bedenken, dass scharfe Maßnahmen womöglich unverhältnismäßig sein könnten. Die Politik schwächt ihre Forderungen leicht ab, redet von Verhältnismäßigkeit, von Grundrechten, von demokratischen Prinzipien. Plötzlich ist die aufgeheizte Debatte etwas weniger hitzig, die Forderungen etwas weniger laut, der Druck etwas weniger stark.

TIP:  DIE INSTRUMENTE DER VERGANGENHEIT

5. Akt: Gar nichts

Ein paar Wochen später: Stille. Das Medienspektakel ist abgeklungen, die Talkshows haben neue Themen gefunden, die sozialen Netzwerke sind mit frischen Skandalen versorgt. Die Debatte, die einst mit so viel Eifer geführt wurde, ist leiser geworden. Die versprochenen Maßnahmen sind irgendwo im politischen Prozess steckengeblieben. Das neue Gesetz liegt in irgendeiner Schublade. Der Untersuchungsausschuss ist noch nicht einmal eingesetzt worden. Und dann das, was eigentlich niemand aussprechen will: Am Ende passiert gar nichts.

6. Akt: Übergang zur Tagesordnung

Die Welt dreht sich weiter. Die Nachrichtenflut spült das Verbrechen aus dem kollektiven Gedächtnis. Die Debatte ist abgeschlossen, das Entsetzen verflogen. Die Menschen kehren zu ihren Routinen zurück, die Politik zu ihrem Alltagsgeschäft. Bis zum nächsten Mal. Denn das nächste Verbrechen kommt bestimmt. Und dann beginnt alles von vorne. Ein schauriges Ritual, das sich endlos wiederholt. Die Empörung wird frisch sein, die Forderungen laut, die Mahnungen besonnen, das Vergessen gewiss.

Und dann? Dann beginnt der erste Akt erneut.

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