Das große moralische Missverständnis

Zwischen Volksfest und Staatsraison

Irgendwann, in einer nicht allzu fernen Zukunft, wird man sich vielleicht die Augen reiben. Man wird alte Nachrichtenberichte aus den Archiven kramen, sich an die Worte gewählter Volksvertreter erinnern und sich fragen: Wie war das möglich? Wie konnte ein Land, dessen historische Schuld von der Wucht eines Titanen getragen wird, sich derart in moralischer Beliebigkeit verlieren? Wie konnte man in Berlin, im klimatisierten Regierungsviertel, auf den Ruinen der deutschen Vergangenheit stehend, eine Aussage treffen, die so atemberaubend naiv wie politisch desaströs ist?

Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock, selbsternannte Völkerrechtlerin und unermüdliche Verfechterin diplomatischer Worthülsen, hat es wieder einmal geschafft. „Der 7. Oktober war auch für die Palästinenser der schlimmste Tag„, sprach sie mit jenem unerschütterlichen Glauben an die eigene moralische Unfehlbarkeit, den nur deutsche Politiker mit Hang zur Weltverbesserung an den Tag legen. Und während die Bilder aus Gaza um die Welt gingen – jubelnde Menschen, Feuerwerk, Siegesparaden zur Feier der Rückgabe von vier brutal ermordeten israelischen Geiseln – blieb einem der Atem weg. War der 7. Oktober, dieser Tag der Massaker, der Massenvergewaltigungen, der Kinderenthauptungen, wirklich „auch für die Palästinenser der schlimmste Tag“?

Die deutsche Moral als flexibles Instrument

Natürlich, es gehört zur deutschen Staatsdoktrin, sich möglichst äquidistant zu geben. Bloß keine klaren Worte, bloß keine unzweideutige Parteinahme. So hat man sich nach dem Zweiten Weltkrieg eingerichtet, in diesem wohlig-warmen Kokon aus Vergangenheitsbewältigung und dem bedingungslosen Glauben an „Diplomatie“. Man zahlt, man gedenkt, man schickt Friedensappelle, aber um Himmels Willen, man bezieht keine klare Haltung.

So erklärt sich wohl auch, warum Deutschland, das inbrünstig seine historische Verantwortung betont, zugleich in den letzten zwei Jahren über 900 Millionen Euro in den Gaza-Streifen gepumpt hat. Ein Gaza, das seit fast zwei Jahrzehnten von der Hamas regiert wird, einer Organisation, deren Gründungscharter unverblümter Antisemitismus ist. Aber das Geld, so beteuern unsere Regierungsvertreter, sei natürlich „humanitär“. Die Frage, warum sich „humanitäre Hilfe“ stets in Waffen, Tunnelsystemen und einem erlesenen Raketenarsenal niederschlägt, bleibt unbeantwortet.

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Volksfeste und Verständnisappelle

Währenddessen zelebriert man in Gaza also die rückübergebenen Leichen. Frauen tanzen, Männer schreien vor Freude, Kinder schwenken Flaggen. Es ist ein Volksfest des Todes, ein orgiastischer Triumph der Barbarei. Doch in Berlin, so ahnt man, wird man das nicht als Zeichen tiefer Verrohung begreifen. Vielmehr wird man auf „die komplexe Lage“ verweisen, darauf, dass „die einfachen Antworten“ nicht helfen. Und natürlich darauf, dass „auch die Palästinenser leiden“.

Ja, die Palästinenser leiden. Aber an wem? An Israel, diesem einzigen demokratischen Staat im Nahen Osten, oder an der eigenen, von Hass zerfressenen Führung? Die Frage wird in Deutschland nicht gestellt, weil die Antwort unbequem wäre. Weil sie unser Weltbild in Unordnung brächte. Und so ergehen sich deutsche Politiker weiter in moralischer Akrobatik, während andernorts das Leben gefeiert wird – selbst, wenn es das Sterben ist.

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