Der moralische Dilettantismus in Uniform

Eine Polizei in der Krise oder eine Krise in der Polizei

Die Niederlande, das Land der Blumen, der Grachten, und der Toleranz – oder? Eine aktuelle Episode, die gleichermaßen von satirischer Groteske und tragischer Schwere erfüllt ist, wirft einen beunruhigenden Schatten auf die Vorstellung einer inklusiven Gesellschaft. Jüngst enthüllte Berichte zeigen: Einige niederländische Polizisten sehen sich im Jahr 2024 vor ein „moralisches Dilemma“ gestellt, wenn sie Veranstaltungen jüdischer Gemeinschaften schützen sollen. Es scheint, als ob es einen unsichtbaren Knopf gibt, auf den niederländische Polizisten drücken und damit den „Schutzmodus“ deaktivieren können, sobald ein jüdischer Kontext auftaucht. Doch wie moralisch ist ein Dilemma, das sich selektiv äußert, je nach Religion der Schutzbedürftigen?

Entsetzen ging durch die Reihen der Polizeiführung und der niederländischen Politik, als bekannt wurde, dass sich Polizeibeamte dieser Schutzaufgabe verweigern. Ein Entsetzen, das auf Papier festgehalten wurde, denn Handlungen, konkrete Konsequenzen, blieben aus. Polizeipräsidentin Janny Knol erklärte lediglich, dass die Beamten selbstverständlich ein Recht auf „ihre eigene Meinung und Emotionen“ hätten. Ein Recht auf Meinung und Emotionen also – so wertvoll, dass es im Ernstfall über dem Sicherheitsbedürfnis von Bürgern stehen darf, die eigentlich auf den Schutz der Polizei angewiesen sind. Wer braucht schon Rechtsstaatlichkeit und öffentliche Sicherheit, wenn er „Emotionen“ haben kann?

Der Sicherheitsauftrag als Gefühlssache

Mit Knols Aussage ist man in den Niederlanden, so scheint es, in einen neuen Diskurs über die Aufgaben der Polizei eingetreten: Der öffentliche Sicherheitsauftrag wird zur Gefühlssache erklärt. „Wir sind für alle da. Dies ist die Basis der Polizeiarbeit“, sagt Knol. Aber sind sie es wirklich? Ein fragwürdiges Bekenntnis, das, gemessen an der Realität, eher wie eine leere Hülle wirkt. Wir erleben die bizarre Idee einer „subjektiven Polizei“, die sich je nach persönlicher Befindlichkeit entscheiden darf, ob sie Bürger schützt – oder eben nicht. Man könnte meinen, der Schutzauftrag sei ein Tagesangebot im Supermarkt, das die Polizei nur nach Laune einlösen muss. Heute im Angebot: Schutz für alle. Nur heute – und nur, wenn’s Ihnen nichts ausmacht.

TIP:  Die Bühne der Meinungsfreiheit

Was folgt als Nächstes? Werden Verkehrspolizisten künftig auch „moralische Dilemmas“ bei der Verhängung von Bußgeldern geltend machen? „Tut mir leid, aber ich fühle mich heute unwohl damit, Verkehrssünder zu belangen, wenn sie sympathische Gesichter haben.“ Die Verklärung von Sicherheitsaufgaben zu einer Ermessensfrage des Polizeibeamten öffnet eine gefährliche Tür: Warum noch für die Rechte aller eintreten, wenn persönliche Präferenzen über die Pflichten entscheiden?

Wenn Debatten Maßnahmen ersetzen

Polizeichefin Knol hat prompt reagiert. Nein, nicht mit disziplinarischen Maßnahmen – das wäre ja zu einfach. Stattdessen kündigte sie eine „interne Diskussion“ an. Man darf sich das als eine Art Plauderrunde vorstellen, in der Beamte über ihre „moralischen Dilemmata“ bei Kaffee und Keksen debattieren. „Wie fühlen wir uns eigentlich, wenn wir Juden beschützen sollen?“ könnten die ersten Fragen dieser Sitzung lauten. Während antisemitische Anfeindungen einen immer bedrohlicheren Charakter annehmen und die jüdische Bevölkerung zunehmend in Angst lebt, setzt die Polizei lieber auf Selbstfindung. Ein Therapieabend zur Gewissensentlastung, anstatt konsequente Maßnahmen zum Schutz von Bürgerrechten. Man könnte fast meinen, es handle sich um ein avantgardistisches Kunstprojekt zur institutionellen Selbsttherapie, bei dem der Schutzauftrag zur emotionalen Reflexion mutiert.

Was sagt es über eine Institution aus, wenn sie glaubt, dass Diskurs und Diskussion als Reaktion auf eine akute Bedrohungslage ausreichen? Während die Polizei zögert, wird die jüdische Gemeinschaft zur Geisel dieser halbherzigen Selbstreflexion. Sie wird faktisch zur Belastungsprobe des niederländischen Justizsystems, das plötzlich nicht mehr weiß, ob und wie es zu reagieren hat, und das eigentlich nur eines bräuchte: Eine entschiedene Haltung gegenüber denjenigen, die sich ihrem Dienst entziehen.

Wenn Antisemitismus salonfähig wird

Der Fall geht weit über das Innenleben der Polizei hinaus und wirft ein grelles Licht auf die politische und gesellschaftliche Entwicklung der Niederlande. Antisemitismus, der als „moralisches Dilemma“ verharmlost wird, scheint eine schleichende, aber gefährlich bequeme Normalität erreicht zu haben. Die Parlamentsabgeordneten der VVD, die die Frage nach dem Schutz der jüdischen Bürger stellten, erinnerten an die eigentliche Aufgabe des Staates: Sicherheit für alle. Man könnte meinen, dass dies selbstverständlich sei. Doch dass diese Nachfrage überhaupt erforderlich ist, zeigt, wie sehr das Grundprinzip der staatlichen Sicherheit bereits ins Wanken geraten ist.

TIP:  Die Quadratur des Meinungskartells

Seit den Terrorangriffen vom 7. Oktober 2023, die die Welt erschütterten, grassiert auch in den Niederlanden ein erstarkender Judenhass. Die öffentliche Meinung wird zunehmend von simplifizierenden Parolen beeinflusst, die gefährliche Klischees und Vorurteile schüren. Dies führt dazu, dass selbst diejenigen, die als Schutzschild der Gesellschaft dienen sollen, sich diesen Tendenzen nicht mehr entziehen können oder wollen. So entstehen die ersten Risse im gesellschaftlichen Fundament. Ein „moralisches Dilemma“ wird zum Deckmantel für etwas viel Schlimmeres: die Bereitschaft, das Sicherheitsbedürfnis einer Minderheit der eigenen Bequemlichkeit zu opfern.

Das Schweigen der Uniformen

Was tun wir also mit einer Polizei, die den Schutz der Bürger als moralische Verhandlungsmasse betrachtet? Die Frage ist: Was bedeutet das für die Rechtssicherheit eines Landes, wenn die Polizei selbst entscheidet, wem sie dient und wem nicht? Ein Dilemma, das nur in eine Richtung geht, ist kein Dilemma, sondern schlicht ein Vorwand. Eine Uniform bedeutet nicht nur Autorität, sondern auch Verantwortung. Doch die niederländische Polizei hat offenbar beschlossen, diese Verantwortung nach eigenem Ermessen auszuüben – oder eben nicht.

Das selektive Schweigen der Uniformen ist Ausdruck einer bedenklichen Entwicklung, die das Prinzip der Gleichbehandlung aller Bürger untergräbt. Es ist kein Zufall, dass die niederländische Politik vor diesem Fall ebenso erschüttert ist wie die jüdische Gemeinschaft selbst. Die Sicherheit einer Minderheit ist hier zur Glaubwürdigkeitsprobe der Institutionen geworden, die eigentlich für den Schutz aller eintreten sollten. Wenn man das „moralische Dilemma“ akzeptiert, dann hat man bereits die ersten Schritte getan, um die Rechtsstaatlichkeit auszuhebeln – die Grenze zwischen moralischer Flexibilität und institutioneller Verrottung wird dabei schleichend überschritten.

Ein Land zwischen Dilemma und Verantwortungslosigkeit

Die aktuelle Debatte über den Schutz jüdischer Veranstaltungen und die „moralischen Dilemmas“ der Polizei ist eine Farce in Reinform – ein zynisches Theater, das die Schutzlosigkeit einer ganzen Gemeinschaft schamlos zur Diskussion stellt. Die Tatsache, dass die niederländische Polizei interne Diskussionen für ausreichend hält, anstatt mit klaren Maßnahmen gegen Antisemitismus in den eigenen Reihen vorzugehen, offenbart ein beängstigendes Maß an institutioneller Gleichgültigkeit. Dies ist keine Sicherheitsarbeit, dies ist moralischer Dilettantismus in Uniform. Die Botschaft an die jüdische Gemeinschaft ist klar: Ihr seid nur dann willkommen, wenn eure Sicherheit nicht im Widerspruch zur emotionalen Befindlichkeit unserer Beamten steht.

TIP:  Von der heiligen Empörung zur heiligen Einfalt

Die Niederlande mögen sich rühmen, eine weltoffene, inklusive Gesellschaft zu sein. Doch die Realität sieht anders aus. Während die Welt zusieht, steht die Frage im Raum: Wie lange wollen wir es zulassen, dass Antisemitismus unter dem Deckmantel eines „moralischen Dilemmas“ in den Polizeistrukturen Fuß fasst? Wer schützt, wenn die Wächter selbst zum Problem werden? Die niederländische Gesellschaft hat jetzt die Möglichkeit, sich dieser Verantwortung zu stellen. Andernfalls bleibt nur das „moralische Dilemma“ – eine Lüge in Uniform, die langsam zur bitteren Wahrheit wird.


Quellen und weiterführende Links

  1. Koeman, Tom. “The Rise of Anti-Semitism in the Netherlands.” Dutch Sociopolitical Review, 2023.
  2. Jüdische Allgemeine. “Antisemitismus in der Polizei: Ein moralisches Dilemma?” 2024.
  3. Marijnissen, Lisette. Antisemitism and Police Attitudes in Europe. European Institute of Social Studies, 2023.
  4. “Dutch Police Facing Criticism for Failing to Protect Jewish Communities.” The Guardian, Oktober 2024.
  5. Ministerie van Justitie en Veiligheid. “Nationaler Sicherheitsbericht 2023: Herausforderungen des Antisemitismus.”
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