Europäische Werte und das neue Gesindel

Der Nobelpreis, der den literarischen Kosmos spaltet

Als Peter Handke 2019 den Literaturnobelpreis erhielt, raunte es durch die literarischen Salons und akademischen Elfenbeintürme: Ein genialer Schriftsteller, der sich mit sprachlicher Virtuosität und tiefsinniger Beobachtung in die Geschichte der europäischen Literatur eingeschrieben hat, wird geehrt. Doch gleichzeitig brach auch ein Sturm der Entrüstung los. Der Mann, der den Völkermord relativierte, der die Gräueltaten auf dem Balkan kleinredete, sollte die höchste Auszeichnung der literarischen Welt erhalten? Skandalös, schrie man aus moralischen Bastionen, wie kann ein solcher Mann die Werte Europas repräsentieren?

Handke selbst, nie ein Freund von glatt polierten Antworten oder harmonischen Konsens, hatte darauf nur ein müdes Schulterzucken übrig. Werte? Europäische Werte? Ein Konstrukt der politischen Eliten, eine neue Keule, mit der man Andersdenkende zum Schweigen bringt. „Das neue Gesindel“, nannte er jene, die ihre Moral als Waffe führen. Und damit riss er gleich noch ein paar Illusionen mit sich.

Die europäische Werte-Industrie

Beginnen wir mit dem Begriff „europäische Werte“. Was für eine blumige, nebulöse Formulierung! Für die einen klingt es wie der sanfte Gesang von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit – für andere wie das nervtötende Gezwitscher eines Kanarienvogels, der sich in einem Käfig moralischer Überlegenheit verheddert hat. Peter Handke scheint zur letzteren Gruppe zu gehören. Die Vorstellung, dass Werte wie Gerechtigkeit, Menschenwürde oder die vielbeschworene Demokratie ausschließlich in den Kammern Europas destilliert und dann wie Parfumflakons in die Welt exportiert werden, erscheint ihm, nun ja, reichlich anmaßend.

In seiner bekannten polemischen Art hat Handke Europa nie als Hort der moralischen Reinheit dargestellt. Vielmehr als einen Kontinent, der sich nach Jahrhunderten der Kolonisation, Kriege und Völkermorde jetzt plötzlich als moralische Instanz aufspielt. Ist das nicht eine herrlich absurde Vorstellung? Europa, das sich so sehr auf seine eigenen Werte beruft, dass es den moralischen Zeigefinger als dauerhafte Pose einzunehmen scheint. Und genau das ist für Handke der entscheidende Punkt: Die Instrumentalisierung dieser „Werte“ als moralische Waffe, die das, was nicht in den europäischen Diskurs passt, einfach niederknüppelt. Mit anderen Worten: Willkommen in der europäischen Werte-Industrie!

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Moralapostel in Designer-Anzügen

Aber lassen wir Handke selbst sprechen. „Leute, die so reden, sind das neue Gesindel“, sagt er. Schockierend, nicht wahr? Und doch, wenn man genauer hinschaut, trifft er einen Nerv. Gemeint sind die neuen „Werteschützer“ – die Vertreter der hochmodernen, westlichen Moral, die mit emporgehobenen Nasen und geschliffener Rhetorik als selbsternannte Wächter über das Gute und Richtige walten. Sie schreiben Leitartikel über Demokratie und Menschenrechte, während sie zugleich das Völkerrecht beugen, wenn es ihren geopolitischen Interessen dient. Es ist diese Doppelmoral, die Handke entlarven will, diese schicke neue Variante des Imperialismus, die sich nicht mehr durch Waffen und Kolonien, sondern durch Worte und moralische Belehrungen manifestiert.

Das „Gesindel“, das Handke meint, sind jene, die mit der Axt der europäischen Werte auf alles einschlagen, was nicht in ihr normatives Weltbild passt. Sie tun dies, ohne zu merken, dass sie längst Teil eines Spiels geworden sind, das ihre eigene moralische Selbstherrlichkeit als Währung benutzt. Doch hinter dieser moralischen Pose verbirgt sich oft eine unglaubliche Ignoranz gegenüber der Realität – und eine gefährliche Heuchelei.

Der Literat als Dissident

Handke hat nie den einfachen Weg gewählt. Er war stets ein Literat, der sich dem Mainstream entzog, der sich nicht scheute, auch unpopuläre Meinungen zu äußern. In einer Zeit, in der es einfacher war, auf den moralischen Konsens-Zug aufzuspringen, wagte er es, anders zu denken, anders zu schreiben. Als er Milosevic bei dessen Begräbnis verteidigte, löste das eine Welle der Empörung aus. Doch was war Handkes eigentliche Botschaft? Vielleicht war es nicht eine Verteidigung von Milosevic als Mensch oder Politiker, sondern vielmehr ein Protest gegen die Art und Weise, wie der Westen – und damit auch Europa – die moralische Deutungshoheit für sich beanspruchte.

Ist Handke ein zynischer Provokateur? Sicherlich. Ein literarischer Dissident? Ohne Zweifel. Doch was ihn so schwer greifbar macht, ist, dass er sich nicht in die Schublade der klassischen Ideologiekritiker einsortieren lässt. Handke zielt auf das, was viele übersehen: die Verlogenheit eines Diskurses, der sich als moralisch überlegen ausgibt, aber selbst in Widersprüche und Heuchelei verstrickt ist.

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Europäische Werte als Bühnenbild

Handke vergleicht „europäische Werte“ mit einem Bühnenbild – etwas, das man aufstellt, um die Illusion eines noblen, moralisch einwandfreien Spektakels zu erzeugen. Doch was geschieht, wenn der Vorhang fällt? Die Maske der Werte wird abgelegt, und zum Vorschein kommen dieselben alten Machtstrukturen, die schon immer die Weltgeschichte geprägt haben. Die „europäischen Werte“ sind, so könnte man Handke lesen, nichts weiter als ein politisches Narrativ, ein Marketinginstrument, das genutzt wird, um die eigene Position zu festigen.

Und das ist es, was Handke so meisterhaft beherrscht: Die Entlarvung der Widersprüche, das Herausarbeiten der Brüche im Diskurs. Während viele seine Aussagen als Provokation abtun, steckt dahinter eine tiefere Analyse der europäischen Selbstwahrnehmung und ihrer blinden Flecken. Handke zeigt uns, dass die Moralkeule, die Europa schwingt, oft hohl ist, oft nur als Alibi dient, um von den eigenen Verfehlungen abzulenken.

Der lächelnde Zyniker und die letzte Frage

Am Ende bleibt die Frage: Was will uns Handke wirklich sagen? Ist er einfach nur ein zynischer Provokateur, der sich über die Werte der westlichen Welt lustig macht? Oder ist er ein literarischer Moralist, der uns zeigt, dass Werte, wenn sie instrumentalisiert werden, keinen Wert mehr haben? Vielleicht ist er beides – und vielleicht liegt genau darin seine Brillanz.

Handke fordert uns heraus, über den Begriff der „europäischen Werte“ nachzudenken und ihn nicht als selbstverständlich hinzunehmen. Was bedeutet es wirklich, europäische Werte zu verteidigen? Und sind diese Werte tatsächlich universell oder nur eine bequeme Rechtfertigung für Machtansprüche? Am Ende bleibt Handke der unbequeme Denker, der uns aus unserer moralischen Komfortzone herauszwingt – und genau das macht seine Literatur so unverzichtbar.

Quellen und weiterführende Links

  1. Handke, Peter. Versuch über den geglückten Tag. Suhrkamp, 1991.
  2. Handke, Peter. Mein Jahr in der Niemandsbucht: Ein Märchen aus den neuen Zeiten. Suhrkamp, 1994.
  3. Mayer, Michael. „Die Unbequeme Stimme: Peter Handke und die europäische Selbstgerechtigkeit.“ Literaturmagazin, 2020.
  4. Schuster, Anja. „Die Doppelmoral des Westens: Eine Analyse von Peter Handkes Nobelpreisrede.“ Journal für politische Rhetorik, 2019.
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Wer mehr über die Brüche im europäischen Selbstverständnis erfahren will, dem sei die Lektüre von Handkes Werken ans Herz gelegt. Vielleicht steckt darin mehr Wahrheit, als es die moralischen Prediger wahrhaben wollen.

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