
Eine Gesellschaft der verkehrten Welt
Was ist nur aus diesem Land geworden? Die Frage, sie ist vielleicht zu groß, zu schwer beladen mit den unausgesprochenen Ängsten derer, die den Fortschritt im Rückspiegel betrachten. Manchmal scheint es, als wären wir alle in einer kafkaesken Erzählung gefangen, einer düsteren Farce, in der die Rollen von Täter und Opfer verkehrt wurden, ohne dass es jemand gemerkt hätte. Wie sonst soll man erklären, dass heute allenthalben ein irritierendes Missverständnis umhergeht, ein Missverständnis, das, je nach Blickwinkel, entweder himmelschreiend naiv oder erschreckend perfide anmutet: Die Herrschenden, die politischen Eliten, scheinen tatsächlich zu glauben – und jetzt bitte festhalten –, dass die Grundrechte, jene hehren Eckpfeiler unserer freiheitlichen Grundordnung, primär Regeln seien, an die sich das Volk zu halten habe. Ja, Sie haben richtig gehört! Es ist ein Missverständnis, das sich hartnäckig hält, so zäh wie Kaugummi am Schuh, so unverwüstlich wie der ewige Irrglaube, dass Politik jemals etwas mit Moral zu tun gehabt hätte.
Ein politischer Taschenspielertrick
Aber lassen Sie uns diesen Taschenspielertrick einmal näher betrachten. Denn wie bei jeder gut ausgeführten Illusion steckt auch hinter diesem Missverständnis eine gewisse Raffinesse. Natürlich, streng juristisch betrachtet, sind Grundrechte Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat. Es klingt so schön einfach, fast trivial: Die Verfassung schützt uns vor staatlicher Willkür, ein Bollwerk gegen die Allmachtsfantasien der Regierenden. Doch in der Praxis – und hier liegt der Clou – wird das Verhältnis ins Gegenteil verkehrt: Nicht der Staat ist der Übeltäter, gegen den sich die Bürger wehren müssen, nein, der Bürger wird zur Bedrohung, die dem Staat das Leben schwer macht. Man erträgt ihn zähneknirschend, wie einen lästigen Verwandten, den man zu Weihnachten duldet, aber möglichst schnell wieder loswerden will.
Diese Verkehrung, diese subtile Umkehrung des Machtverhältnisses, ist es, die das Missverständnis so perfide macht. Es ist eine Illusion, die sich in das Bewusstsein der Gesellschaft eingeschlichen hat, eine Art von kollektiver Gehirnwäsche. Während die Bürger ihre Rechte verteidigen, tut der Staat so, als sei er der eigentliche Gefangene, als ob die Grundrechte seine Hände binden, ihn in seinen hehren Bemühungen einschränken, das Land vor dem Chaos zu bewahren. Welch Ironie! Es ist, als hätte der Löwe Angst vor dem Lamm, weil das Lamm auf seine „Lammrechte“ pocht.
Freiheit im Käfig
Und so stehen wir nun da, in dieser merkwürdigen Zwischenwelt, einer Art juristischem Zoo, in dem die Freiheit in hübschen, wohlgeformten Käfigen ausgestellt wird. Sehen Sie sich doch um: Die Käfiggitter bestehen aus Paragraphen, wohlmeinenden Verordnungen und angeblich alternativlosen Gesetzesvorhaben. Und wir, die Bürger, die eigentlich die Wächter unserer eigenen Freiheit sein sollten, sitzen hinter diesen Gittern und glauben allen Ernstes, wir seien frei. Ja, hin und wieder dürfen wir uns ein bisschen rühren, vielleicht mal im Wahlkampf ein paar Plakate hochhalten oder in den sozialen Medien schimpfen – das ist unser Auslauf, unsere kleine, illusionäre Freiheit.
Doch wehe, einer wagt es, die Gitterstäbe in Frage zu stellen! Sofort werden die Zoodirektoren – auch bekannt als Politiker und Bürokraten – nervös. Plötzlich ist man ein „Verfassungsfeind“, ein „Rechtsbrecher“, ein „Gefährder“. Es ist eine der großen Ironien unserer Zeit: Der Staat, der sich ja eigentlich an die Verfassung halten muss, macht diejenigen mundtot, die auf ebendiese Verfassung pochen. Man erinnere sich nur an die pandemiebedingten Einschränkungen der Grundrechte – alles natürlich „alternativlos“ und „zum Schutz der Allgemeinheit“. Wer sich dagegen wehrte, war wahlweise ein „Leugner“ oder ein „Egoist“, der nicht verstand, wie wichtig es ist, für das Gemeinwohl auf ein paar unwichtige Freiheiten zu verzichten. Welch noble Selbstverleugnung der Freiheit, welch tragische Perversion eines liberalen Rechtsstaates!
Der autoritäre Reflex der Ohnmächtigen
Aber warum funktioniert diese Inszenierung so gut? Warum lassen wir uns diesen Betrug, und nichts anderes ist es, so bereitwillig gefallen? Der Grund liegt in der menschlichen Psyche, oder besser gesagt, in einem zutiefst autoritären Reflex, der immer dann hervortritt, wenn die Herrschenden das Gefühl haben, ihre Macht entgleite ihnen. Dieser Reflex, diese panische Angst vor Kontrollverlust, führt dazu, dass sie in allem und jedem eine Gefahr sehen: In der freien Meinungsäußerung, in unabhängigen Medien, in Bürgerprotesten, ja sogar in den Gerichten, die zuweilen noch den Anstand haben, verfassungswidrige Gesetze zu kippen. Die Herrschenden verstehen nicht, dass die Grundrechte keine Gnade des Staates sind, sondern Abwehrrechte der Bürger gegen einen Staat, der immer und überall in Versuchung steht, seine Macht zu missbrauchen.
Das Missverständnis der Herrschenden liegt darin, dass sie ihre eigene Ohnmacht nicht erkennen. Sie glauben, sie seien die Herren über Recht und Gesetz, während sie in Wirklichkeit nur die Verwalter einer Macht sind, die ihnen jederzeit entzogen werden könnte. Und aus dieser Ohnmacht heraus entsteht ein reflexartiges Bedürfnis nach Kontrolle. Grundrechte werden nicht mehr als unveräußerliche Schranken der staatlichen Macht verstanden, sondern als lästige Hindernisse, die es zu überwinden gilt – sei es durch Notstandsverordnungen, Ausnahmezustände oder schlicht durch die schiere Ignoranz gegenüber verfassungsrechtlichen Vorgaben.
Der Bürger als Untertan
Und so wird die Demokratie zur Farce, zu einem bürokratischen Schauspiel, in dem der Bürger zwar theoretisch das Sagen hat, praktisch jedoch immer wieder darauf hingewiesen wird, dass er seine eigene Freiheit gefährdet, wenn er sie allzu sehr beansprucht. Die Wahlen, sie sind nur das hübsch dekorierte Feigenblatt vor einem Baum der Illusion, der längst keine Wurzeln mehr hat. Denn die wahren Entscheidungen werden nicht mehr in Parlamenten getroffen, sondern in Hinterzimmern, auf Konferenzen und in den elitären Kreisen der „alternativlosen“ Politik.
Der Bürger hat seine Rolle in diesem Spiel längst akzeptiert: Er ist nicht mehr der Souverän, der die Macht ausübt, sondern der Untertan, der sich an die „Spielregeln“ zu halten hat. Grundrechte? Ach, das sind doch nur ideelle Werte, die in Sonntagsreden beschworen werden, aber im Alltag, im „echten Leben“, sind sie bestenfalls zweitrangig. Die wahre Macht liegt bei denen, die die Regeln schreiben, und diese Regeln werden zunehmend zu einem Korsett, das die Gesellschaft immer enger schnürt.
Die Ironie des „Verfassungsschutzes“
In diesem Zusammenhang erscheint die Existenz eines „Verfassungsschutzes“ als die wohl größte Ironie überhaupt. Ein Organ, das angeblich die Verfassung vor ihren Feinden schützen soll, aber in Wahrheit nur die Herrschenden vor den Bürgern schützt. Es ist, als hätte man den Fuchs zum Wächter des Hühnerstalls gemacht. Der Verfassungsschutz, er ist der Erfüllungsgehilfe eines Staates, der in seiner Paranoia jede Kritik, jeden Protest als „staatsfeindlich“ brandmarkt, während er selbst die Verfassung nach Belieben beugt und bricht.
Man fragt sich unwillkürlich, ob die Menschen, die in diesen Institutionen arbeiten, jemals einen Blick in das Grundgesetz geworfen haben – oder ob sie vielleicht eine alternative Version davon besitzen, in der Artikel 1 lautet: „Der Staat darf alles, der Bürger nichts.“
Das Ende der Freiheit oder ein Neuanfang
So stehen wir also am Scheideweg. Wird das Missverständnis der Herrschenden eines Tages korrigiert werden, wird die Freiheit ihren angestammten Platz zurückerobern? Oder wird die schleichende Entmündigung der Bürger weiter voranschreiten, bis wir uns eines Tages in einem totalitären Staat wiederfinden, in dem Grundrechte nur noch als nostalgische Relikte vergangener Zeiten betrachtet werden?
Die Antwort darauf liegt nicht bei den Herrschenden, sondern bei uns. Solange wir dieses Missverständnis nicht entlarven, solange wir nicht erkennen, dass die Grundrechte unsere Waffen gegen einen übergriffigen Staat sind, wird sich nichts ändern. Doch vielleicht, ganz vielleicht, gibt es noch Hoffnung. Vielleicht wird eines Tages jemand den Mut haben, die Gitterstäbe zu durchbrechen und die Freiheit wiederzubeleben – nicht als leere Worthülse, sondern als lebendige Realität.
Quellen und weiterführende Links:
- Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, Artikel 1-19 (Grundrechte): https://www.gesetze-im-internet.de/gg/BJNR000010949.html
- Hans Herbert von Arnim, Die Selbstbediener: Wie die politischen Parteien sich den Staat zur Beute machen. Droemer, 2013.
- Heribert Prantl, Im Namen der Menschlichkeit: Rettet die Grundrechte! C.H. Beck, 2020.
- Paul Kirchhof, Der Staat und seine Verfassung: https://www.kas.de/documents/252038/253252/Der+Staat+und+seine+Verfassung.pdf
- Verfassungsblog – Analysen zur Verfassungsrechtsprechung: https://verfassungsblog.de/