NIE WIEDER IST IRGENDWANN

Die Kunst des Ignorierens

Die Zeit vergeht, aber die Verantwortung nicht. Wir leben in einer Gesellschaft, die es meisterhaft versteht, historische Tragödien in den Nebel des Vergessens zu hüllen. Nie wieder soll es heißen, aber irgendwann wird es dann doch. Irgendwann verfallen wir in jene tückische Gemütlichkeit des Verdrängens. Ein „Nie wieder“, das so oft verkündet wird, dass es in seiner inflationären Nutzung schon fast den Klang einer abgenutzten Floskel angenommen hat. Willkommen im heutigen Deutschland, wo Erinnern und Vergessen Hand in Hand gehen, und wo das Zitat „Die Geschichte wiederholt sich nicht“ nur dazu dient, die Augen vor der Realität zu verschließen.

Schweigeminuten als Provokation

Dass das Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung (LI) den Schulen empfiehlt, auf Schweigeminuten und „Gesten der Empathie“ zu verzichten, ist bezeichnend für den Zustand unserer Bildungslandschaft. Es wäre ja zu viel verlangt, Jugendlichen beizubringen, dass Empathie nicht optional ist, sondern Grundvoraussetzung für ein zivilisiertes Miteinander. Warum sollten wir uns auch die Mühe machen, jungen Menschen die Bedeutung von Gedenken zu erklären? Schweigen ist bekanntlich Gold – und Bildung wohl nur Silber. Ein gemeinsames, nachdenkliches Innehalten? Gott bewahre! Schließlich könnte das ja zu Erkenntnissen führen, die unbequem sind. Es scheint fast, als ob das LI den Idealzustand einer Gesellschaft in der Taubheit und Stummheit der Heranwachsenden sieht – Hauptsache, niemand wird „emotional involviert“.

1.000 Papierkraniche der Hoffnung

Die Idee, als Alternative zu echten Gedenkveranstaltungen „1.000 Kraniche der Hoffnung“ zu falten, verdient besondere Aufmerksamkeit. Ah, was für eine grandiose symbolische Geste! Lasst uns die Realität der Gewalt und des Todes mit zerbrechlichen Origami-Gebilden übertünchen. Was könnte eindrucksvoller sein, als junge Menschen dazu zu bringen, Kraniche aus Papier zu falten, während draußen pro-palästinensische Demonstrationen in Gewalt eskalieren? Während Menschen auf den Straßen brüllen, werden drinnen filigrane Papierarbeiten gefertigt – symbolisch genug, um die eigentliche Hilflosigkeit und das Versagen der Schulpolitik zu verdecken. Ein Kranich für den Frieden, zwei Kraniche für die Ignoranz und tausend Kraniche für die Verdrängung. Diese Geste ist so leer, dass sie fast schon wie ein schlechter Scherz wirkt – wäre sie nicht bitterer Ernst.

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Wünsche an einen Baum hängen

Es scheint fast, als ob das LI in einem surrealistischen Paralleluniversum lebt, in dem die Lösung für jedes weltpolitische Problem darin besteht, Wünsche an Bäume zu hängen. Ob diese Bäume wohl so lange stehen bleiben, bis die Kraniche verrottet sind? Denn realistische Lösungen oder ernsthafte Diskussionen scheinen nicht vorgesehen zu sein. Stattdessen basteln Schüler Zettelchen und formulieren „Wünsche der Hoffnung“, die dann in hübschen Kartons der Trauer gesammelt und vertraulich verschlossen werden. In was für einer Welt leben wir eigentlich, wenn Schüler ihre Gedanken so vertraulich verschließen müssen, dass niemand sie jemals wieder lesen darf? Aber vielleicht ist das ja genau der Punkt. Wir wollen ja nicht, dass ihre Gedanken Unruhe stiften oder jemanden in seiner Filterblase der Gleichgültigkeit stören.

Keine Gedenkfeiern

Warum scheut man sich so sehr vor dem Gedenken? Warum wird das Gedenken als politischer Akt verteufelt? Die Antwort liegt auf der Hand: Historisches Bewusstsein ist gefährlich. Es stiftet Identität, es weckt ein Gefühl der Verantwortung. Wer sich erinnert, wird auch Forderungen stellen – nach Gerechtigkeit, nach Menschlichkeit, nach Verantwortung. Doch all das stört. Gedenken ist unbequem, weil es uns zwingt, nicht nur die Vergangenheit zu betrachten, sondern auch die Gegenwart. Und wer die Gegenwart kritisch betrachtet, wird zwangsläufig erkennen, dass die Dinge alles andere als in Ordnung sind. Es ist einfacher, die Augen zu schließen und mit dem Finger auf andere zu zeigen.

Wer schweigt, gibt Raum für Hass

Während die Schulen sich in symbolischen Gesten verlieren, brodelt die Gesellschaft. Pro-palästinensische Demonstrationen eskalieren, Gewalt bricht sich Bahn, und an den Schulen soll man Papierkraniche falten. Die Abwesenheit von Gedenkveranstaltungen, die mangelnde historische Bildung und das Verschweigen von Empathie öffnen Tür und Tor für Extreme. Die Gesellschaft spaltet sich, und wer schweigt, gibt Raum für die lautesten und aggressivsten Stimmen. Empathie ist keine Einbahnstraße. Wer nicht lernt, in Momenten der Stille und des Gedenkens innezuhalten, wird nie verstehen, was es bedeutet, Verantwortung zu übernehmen. Und genau das ist das Problem unserer Zeit: Niemand will die Verantwortung übernehmen, weil es so viel einfacher ist, sie abzulehnen.

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Ein Pessimismus mit Aussicht

„Nie wieder ist irgendwann.“ Der Satz klingt wie eine düstere Prophezeiung, aber er ist Realität. Wir sehen es täglich: Die historischen Lehren verblassen, die Empathie schwindet, und die Rhetorik der Gewalt übernimmt. Wir wissen, wie gefährlich es ist, die Zeichen der Zeit zu ignorieren. Aber wir tun es trotzdem. Papierkraniche falten ist so viel einfacher, als sich mit der Vergangenheit und ihren Konsequenzen auseinanderzusetzen. Doch irgendwann wird diese Verdrängung einen Preis fordern. Und dann, wenn die Stimmen des Hasses zu laut geworden sind, wird es keine Schweigeminuten mehr geben, keine Kraniche und keine Wunschbäume, die uns vor den Trümmern unserer eigenen Gleichgültigkeit retten können.

Ein Karton für die Zukunft

Vielleicht sollten wir einen Karton der Zukunft basteln, in den wir unsere klugen Ideen für eine aufgeklärte, verantwortungsbewusste Gesellschaft legen. Und vielleicht sollten wir ihn nicht verschließen, sondern offen lassen. Denn die Zukunft lässt sich nicht in Pappkartons einsperren – sie kommt, ob wir vorbereitet sind oder nicht. Doch eins bleibt klar: Wenn wir weiterhin auf Gedenkfeiern verzichten, bleibt uns am Ende nur noch eines: das resignierte Falten von Papierkranichen, während die Welt um uns herum in Scherben fällt.


Weiterführende Links und Quellen:

  1. „Die Bedeutung von Gedenkveranstaltungen in Schulen“, Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft.
  2. „Erinnerungskultur und Empathie“, Bundeszentrale für politische Bildung.
  3. „Historisches Lernen: Eine Aufgabe der Schulen?“, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Artikel vom 05.10.2023.
  4. „Pro-palästinensische Demonstrationen und Gewalt in Deutschland“, Der Spiegel, 12.10.2023.
  5. „Die Rolle der Lehrerbildung in politisch angespannten Zeiten“, Zeit Online, 07.10.2023.
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