Mohammed statt Atatürk

Der neue Lehrplan als Instrument der Unterwerfung

Die türkische Schulpolitik schlägt einen neuen Kurs ein. Nicht irgendeinen, sondern den einzig wahren Kurs, der – wenn man den Worten des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan Glauben schenken möchte – das Land in eine strahlende Zukunft führen wird. Mit dem neuen Lehrplan, der seit diesem Schuljahr in ausgewählten Klassenstufen getestet wird, möchte man die Jugend zu „nationalbewussten, gläubigen Patrioten“ formen. Wer allerdings denkt, es ginge dabei um irgendeine Form von moderner staatsbürgerlicher Erziehung, irrt gewaltig. Hier geht es nicht um das Erlernen von kritisch-reflexiven Fähigkeiten oder die Vorbereitung auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. Vielmehr steht eine geradezu groteske Mischung aus religiösem Dogmatismus, nationaler Mythologisierung und intellektuellem Rückschritt auf dem Lehrplan. Wer mit islamischer Gläubigkeit und dem Stolz auf das vermeintlich unbefleckte Türkentum nicht viel anfangen kann, wird wohl künftig noch weniger Gründe haben, stolz auf das eigene Bildungssystem zu sein.

Atatürks Geist als Feindbild

Nicht weniger als das „Bildungsmodell des türkischen Jahrhunderts“ soll dieser Lehrplan sein, erklärte der Präsident selbst anlässlich des 100. Jahrestages der Republik. Doch von jener Republik und den Idealen, die ihr Gründervater Mustafa Kemal Atatürk einst proklamierte, bleibt in diesem Modell wenig übrig. Atatürks rigorose Trennung von Staat und Religion, sein unermüdliches Bemühen, die Türkei zu einem säkularen, wissenschaftlich orientierten Staat zu machen, scheinen auf der Müllhalde der Geschichte gelandet zu sein. Stattdessen feiert die religiöse Erziehung ein glorreiches Comeback. Die Geschichte des Türkentums wird mystifiziert, der Islam zum höchsten aller Werte erklärt, und Atatürk, einst der unantastbare Nationalheld, zur Randnotiz degradiert. Ein Schelm, wer hier Parallelen zur zunehmend autoritären Selbstinszenierung eines Präsidenten erkennt, der im eigenen Größenwahn längst glaubt, sich mit den Größen der Geschichte messen zu können.

Patriotismus als Deckmantel für geistige Knechtschaft

Es klingt fast wie ein schlechter Witz, dass Schülerinnen und Schüler durch diesen neuen Lehrplan zu „fleißigen, bescheidenen und familienbewussten“ Bürgern erzogen werden sollen. Man könnte meinen, Erdoğan träumt von einer Generation, die in devoter Demut vor ihm kniet, brav ihre Gebete murmelt und die großen Entscheidungen des Landes den weisen, gottgleichen Führern überlässt. Selbstständiges Denken? Hinterfragen der Autoritäten? Zweifel am System? Fehlanzeige. Stattdessen wird die Jugend in den goldenen Käfig der Unmündigkeit gesperrt. Wenn sie dann irgendwann als Soldaten an die Front geschickt werden, um nationale Interessen mit dem Gewehr durchzusetzen, sollen sie sicher wissen, wofür sie kämpfen – für Allah und die Ehre der Nation. Ob dabei irgendjemand auf die Idee kommen könnte, die Legitimität dieser Kriege in Frage zu stellen? Wohl kaum. Die kritische Auseinandersetzung mit der Geschichte, die Analyse geopolitischer Interessen oder das Infragestellen von Propaganda – all das fällt in diesem „Bildungsmodell“ flach.

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Mathematik, überbewertet

Die Weichen für die intellektuelle Verödung sind gestellt: Die Anforderungen in Mathematik werden gesenkt, der Prüfungsdruck reduziert. Warum auch nicht? Was brauchen „gläubige Patrioten“ schließlich Mathematik? Wozu sollten sie wissen, wie man komplexe Gleichungen löst oder wie Statistik funktioniert? Viel wichtiger ist doch die korrekte Interpretation der Hadithe, das Auswendiglernen der Prophetenworte und das akkurate Rezitieren der Suren. Dass ein tiefes Verständnis für Mathematik, Naturwissenschaften und kritisches Denken die Grundlage für wirtschaftlichen Erfolg, technologische Innovationen und sozialen Fortschritt ist, scheint dem neuen Lehrplan vollkommen egal zu sein. Hauptsache, man glaubt an Allah und ist bereit, für die Nation zu sterben.

Religion statt Wissenschaft

Wer wissen möchte, wohin religiöse Erziehung ohne wissenschaftlichen Unterbau führt, der kann einen Blick in den Nahen Osten werfen. Länder wie Saudi-Arabien oder der Iran sind wahre Meister darin, ihre Jugend in die Knie zu zwingen, indem sie religiösen Dogmatismus über alles stellen. Der Preis? Ein Rückstand in nahezu allen Bereichen der menschlichen Entwicklung. Während andere Nationen an der Spitze der Innovation stehen, verharren diese Länder in einem Zustand des intellektuellen Stillstands. Weder medizinische Fortschritte noch technologische Erfindungen sind dort zu erwarten – es sei denn, sie werden aus dem Westen importiert. Die jungen Generationen wachsen in einer Welt auf, in der Fragen nicht erwünscht sind, Zweifel als Sünde gelten und blinder Gehorsam zur höchsten Tugend wird. Ein Modell, das Erdoğan offenbar auch für die Türkei als erstrebenswert erachtet. Mohammed statt Atatürk – das ist der Weg, den er einschlägt.

Die Rückkehr der Untertanen

Erdogan will nicht nur gläubige, sondern vor allem gehorsame Bürger heranzüchten. Man könnte fast meinen, er habe sich in einer einsamen Stunde die Werke von Heinrich Mann zu Gemüte geführt und darin ein Vorbild für sein eigenes Bildungsprojekt gefunden. Der türkische Schüler von heute ist der brave Untertan von morgen – bereit, die Fahne zu hissen, wann immer es der Herrscher verlangt, und bereit, zu schweigen, wann immer ihm der Mund verboten wird. Fragen werden nicht gestellt, denn die Antworten liegen bereits fest: in den Lehren des Propheten und den Weisungen des Staates. Wer hinterfragt, wird korrigiert. Wer zweifelt, wird diszipliniert.

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Auf dem Weg in eine düstere Zukunft

Was bleibt also von diesem „Bildungsmodell des türkischen Jahrhunderts“? Ein leeres Versprechen, das eine ganze Generation zu gefügigen Marionetten der Macht machen will. Die Türkei, einst Hoffnungsträger eines modernen, säkularen Islams, wird durch diesen Lehrplan zurück in die Dunkelheit geführt. Statt intellektueller Offenheit herrscht Enge, statt Wissenschaftlichkeit Dogmatismus. Mustafa Kemal Atatürk dürfte sich im Grab umdrehen, wenn er sehen könnte, was aus seiner Vision geworden ist.

Wer wissen will, wohin dieser Weg führt, braucht nur einen Blick in die Geschichte zu werfen: Kein Land ist durch eine derart einseitige, religiös-nationalistische Erziehung je vorangekommen. Und die Türkei wird da keine Ausnahme sein.


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