Die Revolution frisst ihre Influencer

Es war einmal, in einer Welt, die sich für unendlich entwicklungsfähig hielt, in der jede Idee, die dreist genug war, um sich „progressiv“ zu nennen, sofort auf T-Shirts gedruckt, in TED-Talks verwurstet und als Diversity-Workshop für Rüstungskonzerne gebucht wurde – da glaubte man, der Fortschritt sei eine Einbahnstraße in Richtung Licht. Was für eine herrliche Illusion. Der Fortschritt, der mit flatternden Regenbogenfahnen, genderneutralem Marketing und neoliberaler Feel-Good-Rhetorik Einzug hielt, hat inzwischen einen zynischen Beigeschmack bekommen – ein bisschen wie Sojamilch in altem Espresso: gut gemeint, aber irgendwie… faul. Während der Kapitalismus sich die Kleider des Humanismus überzieht, verkommt die Idee des „Progressiven“ zum Ornament an der Fratze eines Systems, das mit jedem likebaren Post auf Social Media ein weiteres Stück seiner autoritären Zähne fletscht.

Die Dialektik der Data Governance oder: Brave New Büroschlaf

Was einst als Emanzipation von alten Machtstrukturen gefeiert wurde – man denke an das Internet, diesen digitalen Garten Eden für Utopisten mit WLAN – mutierte in erstaunlicher Geschwindigkeit zu einem totalen Panoptikum freiwilliger Selbstüberwachung. Man äußert heute seine Meinung frei – aber mit einem nervösen Blick auf den Algorithmus. Der Kapitalismus liebt die progressive Maske: je mehr Optionen, desto besser. Aber wehe, jemand klickt auf die falsche. Da ist sie wieder, die unsichtbare Hand des Marktes, diesmal jedoch nicht als ökonomisches Prinzip, sondern als „Content Moderation“, gesteuert von Firmen, die sich für neutral halten, solange sie das Richtige denken – also das ökonomisch Verwertbare.

„Du darfst alles sagen“, ruft die neue Freiheit, „aber sag es bitte in einer Sprache, die wir verkaufen können.“ Das progressive Versprechen, alle Stimmen zu hören, endet spätestens dann, wenn jemand eine Stimme erhebt, die nicht ins Markendesign passt. Und so findet man sich wieder – nicht in einer offenen Gesellschaft, sondern in einer offenen Planstelle für Konformismus, Feedbackschleifen und Diversity-Consulting.

Die sanfte Diktatur der Zustimmung oder: Cancel me gently

Man wird heute nicht mehr von der Bühne gezerrt – man wird eingeladen, sich selbst zu entfernen. Es ist der feuchte Traum jeder Bürokratie: eine Bevölkerung, die ihre eigenen Formulare ausfüllt, ihre eigenen Gedanken überprüft und ihre eigenen Abweichungen meldet. Der Kapitalismus, längst kein Wolf im Schafspelz mehr, sondern ein Schaf im Hoodie mit moralischer Mission, hat das Disziplinieren delegiert – an eine Armee von Konsumenten, die glauben, sie seien Akteure der Veränderung, während sie in Wahrheit nur Kunden sind, die sich selbst outsourcen.

TIP:  Ein statistischer Scheinriese

Progressivität wird nicht mehr an der radikalen Infragestellung von Macht gemessen, sondern an der korrekten Haltung beim Kniefall. Wer „woke“ ist, darf alles sagen – solange es nicht den Produktionsfluss stört. Und wer aus der Reihe tanzt, wird nicht weggesperrt, sondern entmonetarisiert. Das ist die neue Zensur: keine Bücherverbote, sondern Sichtbarkeitsentzug. Keine Folter, sondern Shadowbanning. Eine Dystopie im Kuschelmodus.

Utopie als Corporate Branding, der Regenbogen auf dem Panzer

Dass der Kapitalismus alles frisst, war bekannt. Dass er aber selbst seine größten Kritiker in Limited Editions verwandelt, ist die wahre Meisterleistung. Der Kapitalismus hat Greta Thunberg in eine TikTok-Ästhetik gepresst und die Klimakatastrophe in ein Geschäftsmodell verwandelt. Unternehmen werben mit Nachhaltigkeit, während sie Wälder roden, sie sprechen von mental health, während sie Burnouts optimieren, sie feiern Pride, während sie in Ländern investieren, in denen Homosexualität illegal ist – aber nur außerhalb des Pride-Monats, versteht sich.

Was einst links war – Kritik, Skepsis, Ironie, Widerstand – ist heute Teil der Marketingabteilung. Und die Grenze zwischen Utopie und Verkaufsstrategie ist dünner als die Plastikfolie auf Bio-Gurken. Der Kapitalismus hat verstanden: Wer den Fortschritt besitzen will, muss ihn emotionalisieren. Und so wird jede Rebellion sofort in eine App verwandelt, jede Kritik in eine Keynote, jede Utopie in eine Subscription.

Wenn der Algorithmus links blinkt und rechts abbiegt

Irgendwann – und das Irgendwann ist nicht hypothetisch, sondern längst vergangene Gegenwart – wird das Progressivere zum Autoritären im Kapitalismus, weil es gar nicht anders kann. Denn in einem System, das jede Idee nach ihrer Marktgängigkeit bewertet, wird jede Emanzipation zur Dienstleistung, jeder Widerstand zur Funktion, jede linke Theorie zum Content-Modul im Corporate Curriculum.

Wir sind nicht auf dem Weg in eine neue Gesellschaft – wir sind auf dem Weg in ein Update der alten, mit schönerem Interface. Und während wir uns gegenseitig für unsere progressiven Posts liken, verengt sich der Handlungsspielraum wie ein Pop-up-Fenster mit 17 Cookie-Hinweisen. Willkommen im autoritären Kapitalismus – powered by Inclusion, Diversity & AI.

TIP:  #FreeShlomo

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