Demokratie oder Dekorationsobjekt?

Es war einmal ein großes Wort, das versprach, die Tyrannei zu beenden, den Menschen in den Mittelpunkt zu stellen, das Volk zur Stimme zu machen: Demokratie. Ein wunderschöner Gedanke, glanzvoll wie die Freiheitsstatue im Sonnenuntergang und dabei genauso hohl. Benjamin Franklin, der alte Zausel mit Blitzableiter und scharfem Witz, hat es schon früh auf den Punkt gebracht: Demokratie sei, wenn zwei Wölfe und ein Schaf darüber abstimmen, was es abends zu essen gibt. Man könnte es auch so formulieren: Die Mehrheit entscheidet, was mit der Minderheit geschieht – und nennt es Fortschritt. Heute, im Zeitalter hypermoralisierter Hysterien, wird diese Demokratie wie eine Schaufensterpuppe durch Talkshows gezerrt, kostümiert mit Diversität, Nachhaltigkeit und ganz viel „Wir müssen reden“. Doch niemand redet. Man verkündet. Und wer nicht mitklatscht, wird aus dem Theater geworfen – wegen „fehlender Diskurssensibilität“. Willkommen in der spätbürgerlichen Simulation politischer Teilhabe, wo der Wähler zwar abstimmen darf, aber vorher in einem Meinungs-Bällebad so lange weichgeklopft wird, bis seine Wahl ohnehin irrelevant ist.

Massenmeinung oder Massenwahn? Über das Diktat der Gefühlsethik

Wir leben in einer Ära, in der sich politische Entscheidungen nicht mehr an Fakten, sondern an Befindlichkeiten orientieren. „Ich fühle das anders“ ersetzt „Ich denke das anders“, und wer es wagt, auf empirischer Basis zu argumentieren, bekommt die Fakten als unsensibel um die Ohren geschlagen. Gefühle sind das neue Gold, und jeder ist seine eigene Währung. Die Mehrheit ist dabei nicht mehr die Summe der Vernunft, sondern die Echo-Kammer einer emotionalisierten Medienrealität, in der eine Meinungsäußerung bereits als Angriff gewertet wird, sofern sie nicht vorher mit Wattebäuschen entschärft wurde. Die neue Tugend heißt Mitfühlen – freilich nur mit den Richtigen. Die Falschen, also jene, die aus Versehen noch den Unterschied zwischen „ist“ und „sollte“ kennen, gelten als toxisch, rechts, klimafeindlich oder – der neueste Vorwurf – „epistemisch gewalttätig“. Was früher als kritisches Denken durchging, wird heute als Mikroaggression gelesen. Es ist der alte Wahnsinn in neuem Gewand: Wer gegen das Narrativ argumentiert, wird nicht widerlegt – sondern diagnostiziert.

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Wahlen, Wahlkampf und Wahlversprechen – oder: Das Kabarett der Konturlosigkeit

Alle vier Jahre wird die Demokratie ausgeführt wie ein Rentnerhund zum Tag der offenen Tür im Tierheim. Die Parteien werfen mit Worten wie „Zukunft“, „Gerechtigkeit“, „Verantwortung“ um sich, als wären es lose Konfetti aus der Klapperkiste politischer Simulation. Wahlprogramme gleichen längst den Speisekarten eines hippen Bio-Bistros: alles vegan, aber nichts zu essen. Es geht um Bilder, nicht um Begriffe. Wer auf Inhalte hofft, wird enttäuscht – die haben sich hinter Sprechblasen verschanzt, in denen Wörter wie „Transformation“, „Resilienz“ und „Diversität“ ihre Bedeutung längst verloren haben. Es ist ein intellektuelles Feuerwerk aus nassem Zunder. Politiker gleichen mittlerweile Versicherungsvertretern, die einem mit feuchtem Blick das große Ganze erklären – ohne jemals konkret zu werden. Und wehe dem, der fragt, wie man all das bezahlen will. Der wird dann als unsozial bezeichnet. Oder – schlimmer noch – als neoliberaler Technokrat mit einem gefährlich gut funktionierenden Taschenrechner.

Moralismus als Herrschaftsinstrument: Die neue Inquisition trägt Sneakers

Wer heute widerspricht, widersetzt sich nicht einer Idee, sondern einer moralischen Übermacht. Es ist nicht nur falsch, etwas „anderes“ zu denken – es ist böse. Der Diskursraum, früher eine Arena freier Gedanken, ist zum pädagogischen Seminarraum geworden, in dem das richtige Vokabular wichtiger ist als der eigentliche Inhalt. Wörter wie „Normalität“, „Identität“ oder gar „Nation“ sind nicht nur verdächtig, sie sind brandgefährlich – und zwar für die Gefühle derer, die laut genug rufen, sie seien verletzt. Aus Kritik wird Kränkung, aus Kränkung wird Cancel, aus Cancel wird Schweigen. Und das Schaf sitzt wieder am Tisch, nickt zustimmend, während die Wölfe Messer und Gabel zurechtrücken.

Die Ironie: Wer heute Moral predigt, führt keine Ethik – sondern betreibt Machtpolitik mit dem Vorschlaghammer der Empörung. Die Debattenkultur gleicht einem Duell mit Wattepistolen, bei dem jeder Treffer tödlich ist – für den, der getroffen hat. Es ist nicht wichtig, ob etwas gesagt wird, sondern wer es sagt. Haltungsjournalismus ersetzt Analyse, Empörungsalgorithmus ersetzt Nachdenken. Und die Öffentlichkeit, dieses große, vielstimmige Wesen, ist mittlerweile ein Kind mit ADHS, das hysterisch auf jeden Reiz reagiert – aber schon am nächsten Tag nicht mehr weiß, worum es ging.

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Der Bürger als Konsument seiner eigenen Irrelevanz

Der heutige Bürger, sofern er nicht längst in Zynismus, Abstinenz oder Alpakazucht geflüchtet ist, wird von der Politik behandelt wie ein mündiger Minderjähriger. Man redet auf ihn ein, nicht mit ihm. Beteiligung ist erlaubt, solange sie vorher in Beteiligungsformate eingebettet wurde, die niemand versteht, aber alle beklatschen. Die neue Partizipation ist eine Chiffre für kontrollierte Mitwirkung. Wie beim Ikea-Regal darf man beim Aufbau helfen – aber nur, wenn man die Anleitung nicht hinterfragt. Und wehe, man äußert Kritik. Dann wird man wahlweise als „populistisch“, „unsolidarisch“ oder „demokratiegefährdend“ diffamiert – denn in einer Welt, in der alles politisch ist, ist jede Abweichung potenziell gefährlich. Die größte Bedrohung für das System ist heute nicht der Extremist – sondern der Zweifler.

Schlusswort mit Zähneknirschen – oder: Wenn die Freiheit freiwillig abgegeben wird

Und so endet unsere kleine Reise durch die satirische Topografie der sogenannten liberalen Demokratie mit einem bitteren Lächeln. Nein, wir leben nicht in einer Diktatur. Das wäre zu einfach. Wir leben in einem Theaterstück, das sich „offene Gesellschaft“ nennt, in dem aber nur noch die Rollen besetzt werden, die dem Stück gefallen. Die anderen dürfen zusehen. Oder draußen bleiben. Demokratie heute heißt: Du darfst alles sagen – solange du damit niemanden triggerst. Du darfst wählen – aber nicht die Falschen. Du darfst denken – aber bitte nichts, was außerhalb des Drehbuchs liegt. Es ist eine schöne Fassade, in der das Volk mitmachen darf. Wie Komparsen in einem Film, dessen Handlung längst von den Produzenten festgelegt wurde.

Und das Schaf? Das Schaf sitzt am Tisch, brav und verständnisvoll. Es nickt, wenn die Wölfe über Nachhaltigkeit sprechen. Es applaudiert, wenn es heißt: „Wir hören alle Stimmen.“ Und es lächelt, als es serviert wird.

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