
Wer braucht noch den Frieden, wenn es um Haltung geht?
Es war einmal eine Bewegung. Sie füllte die Straßen, trug Plakate mit der simplen Forderung „Frieden“, sang Lieder gegen das Wettrüsten, war jung, war mutig, war laut. Man schüttelte wütend die Fäuste gegen die NATO, gegen Pershing-II-Raketen, gegen den imperialistischen Kriegstreiber auf der anderen Seite des Atlantiks. Man stellte sich mutig der Staatsgewalt entgegen, erklärte den Amerikanern, dass ihre Bomben hier nicht erwünscht seien, und wusste sich stets auf der richtigen Seite der Geschichte. Die Friedensbewegung war ein moralischer Leuchtturm, unerschütterlich, unbeirrbar – und, nun ja, längst vergessen.
Vom Protest zur Stille – ein leiser Abgang
Man könnte fragen: Wo ist sie hin? Die Antwort ist eine leise. Sie hat sich in ihre Einzelteile zerlegt, ist aufgesogen worden von anderen, lauteren, dringlicheren Anliegen. Heute füllen Demonstranten die Straßen nicht mehr mit Forderungen nach Abrüstung, sondern mit Begriffen aus dem Poststrukturalismus. Sie kämpfen nicht gegen Kriege, sondern gegen Begriffe, die verletzen könnten. Gendersternchen und Safe Spaces sind wichtiger als Friedensverhandlungen. Wer „die da oben“ kritisieren will, tut dies nicht mehr mit Transparenten gegen Waffenexporte, sondern mit empörten Tweets über mangelnde Diversität in Talkshows.
Krieg ist Frieden, sagte schon Orwell – und keiner merkt es
Vielleicht ist es ja so: Die Friedensbewegung hat ihren Endgegner gefunden – sich selbst. Denn wenn man sich jahrzehntelang mit moralischer Überlegenheit aufgeladen hat, ist es schwer, zu akzeptieren, dass die Welt nicht schwarz-weiß ist. Heute steht man vor dem Dilemma: Was tun, wenn es nicht mehr der böse Westen ist, der die Kriege führt? Wenn ausgerechnet die Länder, die man einst bewunderte, selbst die Aggressoren sind? Lieber schweigen. Lieber hoffen, dass keiner fragt, wo man eigentlich steht. Und vor allem: Bloß nicht den Fehler machen, den eigenen moralischen Kompass zu hinterfragen. Man könnte ja Gefahr laufen, nicht mehr zur richtigen Szene zu gehören.
Haltung zeigen, aber bitte nicht zu laut
Frieden ist kompliziert geworden. Man kann ihn nicht mehr einfach fordern, denn wer Frieden will, muss mit den falschen Leuten reden. Diplomatie ist verdächtig, Waffenlieferungen sind in Mode, und wer einen Waffenstillstand fordert, wird als Verräter beschimpft. Die Parole „Nie wieder Krieg!“ ist modisch überholt – ersetzt durch „Nie wieder Krieg, aber …“. Die Bewegung von einst hat sich in eine Sammlung einzelner Twitter-Hashtags verwandelt, in wohlklingende Statements in Talkshows, in „Haltung zeigen“ als leere Floskel. Man ist heute gegen Kriege, aber nur gegen die richtigen. Gegen Waffen – aber nur die falschen.
Der Frieden stört nur noch
Früher waren die Friedensbewegten unbequem. Sie störten den Status quo, sie zwangen Politiker, sich zu rechtfertigen. Heute ist Frieden selbst eine Störung. Er ist hinderlich für politische Narrative, unbequem für die eigene Seite. Wenn Krieg dem Guten dient, dann kann man ihn ja nicht mehr einfach ablehnen. Dann muss man differenzieren, abwägen, zwischen „guten“ Bomben und „schlechten“ Bomben unterscheiden. Und so hat sich die einst stolze Bewegung selbst in die Irre geführt, hat sich zerlegt in Bekenntnisrituale, in empörte Debatten über Symbolik statt über Realität.
Ein Appell an das eigene Denken
Ist Frieden noch ein Ziel oder nur noch eine nostalgische Erinnerung? Ist er zu kompliziert für unsere Zeit geworden, zu sehr gefangen in den Verstrickungen von Ideologie und Identitätspolitik? Vielleicht wäre es an der Zeit, wieder über das zu sprechen, was wirklich zählt. Vielleicht wäre es an der Zeit, sich daran zu erinnern, dass Frieden mehr ist als ein moralisches Accessoire. Und vielleicht, ganz vielleicht, wäre es an der Zeit, wieder auf die Straße zu gehen – mit einer simplen, altmodischen Forderung: „Keinen Krieg!“ Aber das wäre wohl zu viel verlangt. Denn wer will sich heute noch den Vorwurf gefallen lassen, einfach nur naiv zu sein?