Digitale Tugendwächter und die neue Welt der Denunziation

Es war einmal eine Welt, in der Menschen noch ungestraft die Straßen entlanggingen, ohne dass ihr Gesicht von einer unsichtbaren Allgegenwart auf Herz und Nieren gescannt wurde. Doch Fortschritt ist nun einmal Fortschritt, und mit ihm kam eine neue Epoche der Tugendhaftigkeit, die sich nicht mehr auf das wankelmütige Gewissen des Einzelnen verlassen wollte. Warum sich mühsam auf eine unzuverlässige Moral verlassen, wenn sich mit ein paar Kameras, ein wenig Künstlicher Intelligenz und einer fleißigen Gemeinschaft der Digitaldenunzianten eine perfekte Gesellschaft erschaffen lässt?

Big Brother braucht keine Vorhänge mehr

In der modernen, wohlgeordneten Welt des digitalen Tugendregimes hat die Anonymität ausgespielt. Gesichtserkennungssoftware ersetzt das misstrauische Nachbarauge, Drohnen übernehmen die Aufgaben des alten Wachtmeisters, und mobile Apps stellen sicher, dass sich kein Bürger aus seiner sozialen Verantwortung stehlen kann. Wer würde es wagen, ein Vergehen ungesühnt zu lassen, wenn es so bequem und so moralisch lohnend ist, es einfach per Klick weiterzumelden? Die Tugendhafte, die ihren Schleier in der Hitze des Tages ein wenig lockert, ahnt noch nicht, dass eine KI in der Straßenecke sie bereits entlarvt hat und eine Nachricht an die digitale Inquisition unterwegs ist.

Die heilige App der Aufrichtigkeit

Besonders elegant ist die Einführung der App „Nazer“. Ein Name, der so angenehm neutral klingt und doch in sich die ultimative Waffe der sittlichen Säuberung trägt. Wer braucht noch Verwandte oder enge Freunde, um diskrete Hinweise auf die eigene Fehlbarkeit zu erhalten, wenn jede beliebige Person mit einem Smartphone zur Vollstreckung einer höheren Ordnung beitragen kann? Endlich kann sich jeder als moralischer Soldat beweisen, sei es im Taxi, im Krankenhaus oder einfach nur auf der Straße. Und das Beste daran: Keine langwierigen moralischen Abwägungen mehr, keine innere Zerrissenheit! Ein simpler Klick, und schon ist die Welt ein bisschen reiner geworden.

Moderne Hexenjagd: Effizienter denn je!

Manchmal fragt man sich, warum frühere Gesellschaften so umständlich vorgegangen sind. Hexenprozesse, inquisitorische Verfahren, geheime Spitzelnetzwerke – alles sehr ineffizient im Vergleich zur heutigen Massenüberwachung. Wer hätte gedacht, dass es einmal möglich sein würde, Frauen durch ein paar geschickt platzierte Kameras und einen Haufen begeisterter Smartphone-Nutzer in Echtzeit zu überwachen? Willkommen in der digitalisierten Renaissance des mittelalterlichen Prangers!

TIP:  Der sanfte Irrtum der Naiven

Das allsehende Auge ruht nie

Die Amirkabir-Universität in Teheran zeigt sich fortschrittlich und setzt auf den Charme der umfassenden Kontrolle. Kein Wunder, denn Bildung bedeutet Verantwortung, und wer sonst als die junge Generation sollte auf moralische Makel besonders penibel geprüft werden? Der Mensch ist schließlich fehlbar, aber zum Glück gibt es Programme, die keine Zweifel kennen. Ist es nicht beruhigend zu wissen, dass die Wissenschaft ihre Kapazitäten in so hehre Aufgaben steckt, anstatt sich mit Nebensächlichkeiten wie der Erforschung unheilbarer Krankheiten oder der Bekämpfung von Armut aufzuhalten?

Ein Hoch auf den technologischen Fortschritt!

Sicherlich gibt es noch ein paar Skeptiker, die sich fragen, ob eine solche allumfassende Kontrolle nicht doch etwas übergriffig sei. Doch das sind die gleichen Unverbesserlichen, die auch damals gegen die Einführung von festen Kleidervorschriften, Zensur und all die anderen Wohltaten der Gesellschaft revoltierten. Fortschritt kann eben nur durchgesetzt werden, wenn er konsequent bleibt. Und so bleibt nur ein Fazit: Die digitale Denunziation ist die Zukunft. Ein paar Software-Updates hier, ein bisschen KI-Feinschliff da, und bald wird moralisches Fehlverhalten noch bevor es begangen wurde erkannt und bestraft. Perfektion ist nur noch einen Algorithmus entfernt.

Schöne neue Welt!

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