Die österreichische Neutralität

Es war einmal ein kleines Land im Herzen Europas, dessen größte diplomatische Errungenschaft darin bestand, niemandem auf die Nerven zu gehen. Man nannte es neutral. Ein goldener Mythos, geboren im Kalten Krieg, als Österreichs Staatsvertrag unterzeichnet wurde und man sich mit staatsmännischer Gravitas und einem gewissen Wiener Schmäh die Absolution für die eigene historische Mitläuferschaft erkaufte – mit einem Versprechen, das sich so schön anhörte wie ein Heurigenlied nach der vierten Runde: Immerwährende Neutralität.

Nun, am Aschermittwoch des Jahres 2025, stand also ein Herr Dengler von den NEOS im Hohen Haus und sprach jene Worte, die mit der nüchternen Brutalität einer Kontokündigung daherkommen: „Die österreichische Neutralität ist vorbei.“ Und man fragt sich, ob dieser Mann sich jemals das Bundesverfassungsgesetz vom 26. Oktober 1955 zu Gemüte geführt hat – jenes sakrosankte Dokument, das unsere Unparteilichkeit wie ein k.u.k. Spitzendeckerl über den republikanischen Tisch breitet. Nein, Herr Dengler, die Neutralität ist nicht vorbei. Aber sie stirbt langsam, von ihrem eigenen Pflegepersonal erwürgt.

Kreisky im Spinmodus

Bruno Kreisky, der große alte Mann der österreichischen Außenpolitik, dürfte mittlerweile mit einer Drehgeschwindigkeit durch sein Ehrengrab rotieren, dass man damit halb Wien mit Ökostrom versorgen könnte. Der Gedanke, dass ausgerechnet eine Außenministerin von den NEOS – jener Partei, die sich für den Fortschritt hält, aber in Wirklichkeit nur ein überdimensionierter LinkedIn-Post ist – nun den außenpolitischen Taktstock führt, grenzt an metaphysische Ironie.

„Unverbrüchliche Treue der Republik“ – so lautet der Amtseid, den jeder Abgeordnete im Parlament schwört. Ein schönes Wort, unverbrüchlich. Man spürt förmlich den altmodischen Anstand, der darin schwingt – als würde man von einem bürgerlichen Lehnstuhl aus mit einem Gläschen Zweigelt auf die Weltlage blicken. Doch leider ist die politische Klasse der Gegenwart eher mit der unverbrüchlichen Treue zur NATO-Pressestelle gesegnet. Neutralität? Das klingt heute für manche wie ein Relikt aus der analogen Ära, wie ein Wählscheibentelefon in einem Coworking-Space.

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Der Pragmatismus der Feigheit

Natürlich, die Welt hat sich verändert. Russland führt Krieg, die USA drängen zur Geschlossenheit, und Österreichs Politiker möchten beim großen Tisch der Moralapostel wenigstens am Katzentisch Platz nehmen. Man will dazugehören. Mitspielen. Endlich auch einmal im NATO-Zelt mitrauchen, selbst wenn man sich dabei nur den Filter in den Mund steckt. Die Neutralität hingegen? Ein hinderliches Relikt, ein nostalgisches Souvenir aus einer Zeit, in der die Welt noch in zwei Hälften geteilt war und Österreich sich mit der geschickten Eleganz eines Fiakergespanns genau dazwischen parkte.

Man könnte ja wenigstens ehrlich sein. Man könnte sagen: Ja, die Neutralität war einmal gut, aber jetzt ist sie uns im Weg. Aber nein, die österreichische Methode verlangt eine andere Choreographie. Man beruft sich auf den Pragmatismus, was in der politischen Sprache Wiens bloß ein Synonym für die feige Kapitulation vor dem Zeitgeist ist. Man erklärt die Neutralität für unzeitgemäß, während man sie gleichzeitig in den Sonntagsreden als sakrosankten Bestandteil der nationalen Identität beschwört.

Der Kuss des Technokratentodes

Die NEOS, diese freundlichen Technokraten in Pastellfarben, sind nicht per se die Totengräber der österreichischen Neutralität – aber sie übernehmen den Kuss des Todes mit der professionellen Kühle eines Unternehmensberaters, der einem Traditionsbetrieb die letzten Sozialleistungen aus den Rippen rechnet. Ein bisschen mehr Integration in die Europäische Verteidigungspolitik hier, ein paar unverbindliche NATO-Kooperationsabkommen dort – am Ende steht der Patient politisch tot im Sarg, während die Partei für ihre Modernität gelobt wird.

Die Realsatire als Regierungsprogramm

Dass nun ausgerechnet diese Partei das Außenministerium besetzt, könnte eine köstliche Pointe sein, wenn es nicht so tragisch wäre. Eine Partei, die im Wesentlichen aus liberalen Wochenendphilosophen und Start-up-Optimisten besteht, wird nun Österreichs Position in der Welt vertreten. Vielleicht ist es nur konsequent: Wer an die unsichtbare Hand des Marktes glaubt, hält auch die Neutralität für einen nachrangigen Punkt im Businessplan.

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Doch während sich die politische Elite in die neuen Zeiten einordnet, bleibt die alte Wahrheit bestehen: Neutralität ist nicht nur ein politisches Konzept, sondern ein Charakterzug. Und dieser Charakterzug war, bei aller Ironie, immer der letzte Rest moralischer Eigenständigkeit, den sich dieses Land bewahrt hatte.

Vielleicht wird man in ein paar Jahren am Wiener Heldenplatz eine kleine Gedenktafel anbringen: „Hier ruhte die österreichische Neutralität. Gestorben an Opportunismus, Pragmatismus und einer Parteichefin mit PowerPoint-Kompetenz.“

In unverbrüchlicher Treue, versteht sich.

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