
Der Stolperstein der Hypermoral
Es beginnt – wie so oft in der Geschichte – mit den besten Absichten. Der Westen, ein Konglomerat aus selbstreferenziellen Demokratien, die sich als moralischer Endpunkt der Zivilisation betrachten, sieht sich erneut in der Rolle des Weltethikers. Die Bühne ist bereitet: Ein überfallenes Land, ein Aggressor mit imperialer Sehnsucht, und ein Zuschauerraum voller liberaldemokratischer Gesellschaften, die ihre eigene moralische Überlegenheit wie eine Monstranz vor sich hertragen. Man verteilt Sanktionen, Waffen und warme Worte, während man sich gegenseitig auf Podiumsdiskussionen die Hände schüttelt. Die Verurteilung des Bösen gerät zur psychotropen Droge, ein kollektiver Rausch in der Glaubensgemeinschaft der Gerechten.
Doch die Hypermoral hat eine tückische Nebenwirkung: Sie duldet keine Komplexität. Die Welt wird binär, geteilt in Licht und Schatten, Gut und Böse, während das Grauspektrum der Realpolitik unberührt bleibt wie ein verbotener Text in der Bibliothek der Tugendhaften. Wer zu Differenzierung rät, wird zum Kollaborateur gestempelt. Diplomatie ist Verrat, Kompromiss ein Verriss des eigenen Wertekanons. So avanciert der Moralist unversehens zum Brandbeschleuniger.
Die Rüstungsökonomie als Lebensversicherung
Der Übergang vom moralischen Kreuzzug zur ökonomischen Interessenverwaltung verläuft nahtlos. Die Produktionslinien der Kriegswirtschaft surren längst wieder im Stakkato der Profitabilität. Alte Industrien feiern ihre Renaissance, während der Markt die Silhouetten der Apokalypse in Quartalszahlen gießt. Waffenlieferungen werden zur humanitären Pflicht erklärt, was nicht nur der Hypermoral, sondern auch der Bilanztinte schmeichelt. Ein Panzer ist schließlich kein Kriegsgerät, sondern eine Freiheitskapsel, die sich mittels Steuererleichterung und Unternehmensförderung gen Himmel rechnet.
Hinter der Kulisse winden sich Politiker in der Choreographie der Selbsttäuschung. Man müsse Russland „schwächen“, aber keinesfalls besiegen – ein intellektuelles Kunststück, das die Quadratur des Kreises zur bürokratischen Routine erhebt. Derweil verlagert sich die Front von der Steppe in die Portfolios der Aktienbesitzer, während Thinktanks darüber sinnieren, ob man die Ukraine zur Schweiz Osteuropas oder doch zur neuen Westbank der NATO umfunktionieren könnte.
Die Eskalationslogik des Unvermeidlichen
Es ist der Moment, in dem der Konflikt zur Eigendynamik wird. Der Krieg wird nicht mehr geführt, um ein Ziel zu erreichen, sondern um seinen eigenen Fortbestand zu rechtfertigen. Eskalation ist keine Option mehr, sondern eine physikalische Notwendigkeit, ein Perpetuum Mobile der Destruktion. Jeder Waffenstillstand gerät zur gefährlichen Versuchung, jeder Friedensappell zur Ketzerei. Die Logik des Krieges hat sich längst von der Vernunft emanzipiert.
Was aber, wenn der Westen zu seinem eigenen Entsetzen gewinnt? Ein in die Enge getriebenes Russland, das an seinem nuklearen Arsenal ebenso verzweifelt festhält wie an seinem imperialen Selbstverständnis, wäre kaum ein Garant für den Weltfrieden. Ein entmachteter Putin wäre nicht der Beginn einer neuen Ära, sondern der Prolog zur Bandenherrschaft über das größte Land der Erde. Der Weltfrieden, den man durch Waffengaben zu erkämpfen hofft, droht zu einem thermonuklearen Schwelbrand zu mutieren, der aus der Peripherie über die Zentren rollt.
Die freiwillige Blindheit der Vernünftigen
Die Tragik unserer Zeit ist nicht die Unwissenheit, sondern der kalkulierte Verzicht auf Wissen. Man weiß, wie Kriege eskalieren. Man kennt die Dynamiken, die aus lokalen Konflikten Weltbrände machen. Man hat all die Lehren der Geschichte in Lehrbüchern verewigt – nur um sie in der Praxis zu ignorieren. Die größte Gefahr für den Frieden ist nicht der Zynismus der Machthaber, sondern die heilige Einfalt der Idealisten.
Die Frage, ob sich der Ukrainekrieg zu einem dritten Weltkrieg auswachsen könnte, ist letztlich eine Frage des kollektiven Willens. Noch könnte man sich für den Frieden entscheiden – doch wer will das schon, wenn der Krieg so viel verführerischer ist? Wer will die Diplomatie, wenn die Moral das Schwert erhebt? Wer will die Vernunft, wenn die Hypermoral ihre eigene Kreuzzugsromantik in Netflix-tauglichen Narrativen inszeniert?
Vielleicht wäre es an der Zeit, die Geschichte nicht länger als moralische Erlösungserzählung, sondern als Tragödie zu begreifen – mit dem kleinen Unterschied, dass das Publikum diesmal mit auf der Bühne steht.