Die im Dunkeln sieht man nicht

Die Macht, die spricht und schweigt

Es gibt Menschen, die durch ihre bloße Existenz Geschichte schreiben. Es gibt andere, die Geschichte lenken, ohne je in die Schlagzeilen zu geraten. John Jay McCloy gehörte zur zweiten Kategorie. Als Architekt der Nachkriegswelt, Strippenzieher der Weltbank, US-Hochkommissar in Deutschland und diskreter Berater der Macht war McCloy eine der mächtigsten unsichtbaren Kräfte des 20. Jahrhunderts. Doch wer war dieser Mann, der gleichermaßen ein Freund von Präsidenten und ein Förderer von Kriegsverbrechern war, der Demokratie predigte, während er Diktatoren hofierte, und dessen Entscheidungen die Weltordnung prägten? Eine polemische Reise durch das Lebenswerk eines Mannes, der sich im Schatten des Weltgeschehens heimisch fühlte.

Der junge Diplomat – Ambitionen, Kontakte und ein Faible für zwielichtige Geschäfte

Philadelphia, 1895: John Jay McCloy wurde in einer Stadt geboren, die einst ein Symbol für Freiheit war. Ironischerweise schien Freiheit für McCloy immer weniger eine universelle Tugend als ein verhandelbares Gut zu sein. Schon früh lernte er, dass Macht nicht in moralischen Absoluten, sondern in verhandelbaren Deals liegt – eine Lektion, die ihm als junger Anwalt zugutekam, als er für Cravath, Henderson & de Gerssdorff die Interessen amerikanischer Konzerne in Europa vertrat. Dass diese Interessen oft in den Taschen von Mussolini oder Göring landeten, störte ihn nicht – Business ist schließlich Business.

Seine Arbeit als Anwalt führte ihn direkt ins Herz der europäischen Wirtschaftskrise der 1920er und 30er Jahre. In dieser Zeit wurde McCloy zum stillen Architekten jener Netzwerke, die von der Wall Street bis zu den Korridoren der faschistischen Machtzentralen reichten. Man stelle sich McCloy vor, wie er in einem Pariser Café sitzt, mit einem Vertreter von I.G. Farben ein Glas Rotwein trinkt und über Kredite spricht, die später Giftgas finanzieren würden. Skrupel? Fehlanzeige.

Der Patriarch der paradoxen Prinzipien

Im Zweiten Weltkrieg wandelte sich McCloy vom profitgetriebenen Anwalt zum staatstreuen Bürokraten. Als Unterstaatssekretär im Kriegsministerium wurde er zum Architekten zahlreicher Strategien, die das US-Militär zum Sieg führten. Doch während er auf den Schlachtfeldern des Pazifik und Europas für die Demokratie kämpfte, setzte er sich gleichzeitig für die Internierung japanischstämmiger Amerikaner ein. Seine Argumentation: Sicherheit gehe vor Freiheit. Eine Lektion, die die USA später im Kalten Krieg perfektionieren sollten.

TIP:  Keine Rettung in Sicht

McCloy war auch ein Mann der großen moralischen Entscheidungen – oder der Vermeidung derselben. 1944 sprach er sich gegen die Bombardierung des Konzentrationslagers Auschwitz aus. Sein Argument: strategische Prioritäten. Ironischerweise setzte er sich später dafür ein, dass einige der Männer, die Auschwitz mit erbaut hatten, frühzeitig aus der Haft entlassen wurden. Ein Mann voller Widersprüche – oder, wie McCloy es vielleicht formuliert hätte, ein Realist.

Der Hohe Kommissar – Richter, Gnadenherr und Architekt des Wirtschaftswunders

Nach dem Krieg wurde McCloy zum Hohen Kommissar der USA in Deutschland ernannt – ein Posten, der ihn zu einer Art römischem Prokonsul in der besiegten Provinz machte. Mit einem Lächeln auf den Lippen und einer scharfen Feder in der Hand leitete er den Wiederaufbau Deutschlands. Seine Entscheidungen – von der Förderung des Marshallplans bis zur Begnadigung von Kriegsverbrechern – waren stets pragmatisch, oft kontrovers und immer durchdrungen von einem fast zynischen Glauben an die Macht des Kompromisses.

Man kann McCloy als den Paten des deutschen Wirtschaftswunders bezeichnen – ein Titel, den er wahrscheinlich mit Freude akzeptiert hätte. Doch während er die Trümmer in den Straßen beseitigte, hinterließ er moralische Trümmer in den Köpfen vieler. Die Begnadigung von Alfried Krupp und Friedrich Flick, zwei der berüchtigtsten Kriegsverbrecher, mag für McCloy ein kluger politischer Schachzug gewesen sein, doch für viele war es ein Verrat an den Opfern des Dritten Reichs.

Der diskrete Berater – Macht ohne Verantwortung

Nach seiner Zeit in Deutschland zog sich McCloy nie wirklich aus der Weltpolitik zurück. Als Berater der Chase Manhattan Bank, als Mitglied der Warren-Kommission und als Architekt zahlreicher internationaler Abkommen blieb er einer der einflussreichsten Männer Amerikas. Doch seine Macht war subtil: Er zog die Fäden hinter den Kulissen, beriet Präsidenten, beeinflusste die Wirtschaft und entschied über die Geschicke von Nationen – und das alles, ohne jemals eine Wahl zu gewinnen.

TIP:  Die Zertrümmerung der Homogenität

Seine Beratungstätigkeit für die großen Ölkonzerne war vielleicht der krönende Abschluss seiner Karriere. Während die Weltöffentlichkeit sich Sorgen um die Umwelt machte, half McCloy dabei, die Macht der OPEC einzudämmen und die Dominanz der westlichen Konzerne zu sichern. Ein letzter Akt des Pragmatismus – oder Zynismus, je nach Perspektive.

Der Schattenmann des 20. Jahrhunderts

John Jay McCloy war ein Mann, der die Welt veränderte, ohne jemals wirklich gesehen zu werden. Seine Entscheidungen – oft pragmatisch, manchmal zynisch, gelegentlich geradezu unmoralisch – prägten die Weltordnung des 20. Jahrhunderts. Doch während die Monumente seines Schaffens weithin sichtbar sind, bleibt die moralische Bilanz seines Lebenswerkes bis heute umstritten.

Vielleicht wäre McCloy selbst der erste, der über diese Kontroversen lachen würde. Denn am Ende war er ein Mann, der verstand, dass Geschichte nicht von Helden geschrieben wird, sondern von Männern wie ihm – unsichtbar, unentbehrlich und unbequem.

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