Die große Kunst der politischen Amnesie

Wie aus Feinden Freunde und aus Hochrisiken Partner werden

Man stelle sich vor: Zwei erbitterte Rivalen, deren rhetorische Artillerie das Publikum jahrelang mit Schützengräben vollgespritzt hat, entdecken plötzlich eine ungeahnte Gemeinsamkeit – nämlich, dass Macht, wie ein besonders schmackhafter Apfel, auch dann reizvoll bleibt, wenn der Baum bereits faulige Wurzeln hat. Die jüngsten Wendungen in der österreichischen Politiklandschaft, insbesondere das vorsichtige Tasten zwischen ÖVP und FPÖ, bieten ein Schauspiel von solch surrealer Groteske, dass selbst ein Salvador Dalí verzweifelt den Pinsel niedergelegt hätte.

Stockers rhetorisches Ballett

Christian Stocker, der – so dachten wir bis gestern – im Wettstreit um den weltweit geringsten Respekt für Herbert Kickl konkurriert, warf dem FPÖ-Chef in den letzten Jahren so viele abgedroschene Floskeln entgegen, dass man sie problemlos zu einem Jenga-Turm der Belanglosigkeit hätte stapeln können. Es war ein wahres Feuerwerk der politischen Verachtung: „Radikaler Verschwörungstheoretiker“, „Sicherheitsrisiko“, „Wendehals“, „rechtsextremer Rand“. Die Worte schienen eigens dafür geschmiedet, sich ins Gedächtnis der Wähler einzubrennen – oder eben doch nur bis zum nächsten strategischen Kurswechsel.

Ein Meisterwerk der Phrasendrescherei lieferte Stocker im Herbst 2023, als er – mit einer moralischen Entrüstung, die beinahe aufrichtig wirkte – vor einem „Hochrisiko“ mit Kickl als Kanzler warnte. Dass nun ausgerechnet dieser Mann erwägt, mit dem Hochrisiko auf Kuschelkurs zu gehen, lässt einen an der Definition von „Risiko“ zweifeln: Vielleicht bedeutet es ja in der ÖVP einfach „Dinge, die unbequem sind, bis sie plötzlich nützlich werden“.

Von Chaos und Niedergang

Doch nicht nur Stocker wusste, wie man eine rhetorische Kettensäge bedient. Herbert Kickl, bekannt für seine nicht immer feinsinnigen Wortspielereien und die oft brachial zur Schau gestellte Abneigung gegen alles, was nicht FPÖ ist, sparte auch an der ÖVP nicht. „Die Mitte des Chaos“, „Partei des Niedergangs“ und die kaum verhohlene Behauptung, die Volkspartei sei ebenso unabhängig wie der ORF – das waren keine zufälligen Verirrungen, sondern gezielt eingesetzte Nadelstiche, die das Bild eines korrupten, visionslosen Gegners zeichneten. Dass er nun bereit sein soll, mit diesen vermeintlichen Versagern zu koalieren, lässt tief in die Seele des politischen Pragmatismus blicken – oder sollte man sagen: in die Bodenlosigkeit politischer Prinzipien.

TIP:  Wie die GroKo das Denken säubern will ...

Die Kunst der inkohärenten Kontinuität

Die zentrale Pointe dieser absurden Tragikomödie ist jedoch das Mantra, das Stocker so oft wie eine tibetische Gebetsmühle wiederholte: „Keine Koalition mit der Kickl-FPÖ!“ Es war mehr als ein politischer Slogan; es war eine moralische Leitlinie, ein vermeintlich unverrückbares Dogma. Bis es eben doch verrückt wurde. Mit einem Timing, das jedem Drehbuchautor vor Neid erblassen lässt, folgte auf die geplatzten Verhandlungen mit der SPÖ ein nahezu sofortiges Öffnen der Arme in Richtung FPÖ – allerdings nicht, ohne vorher noch schnell zu betonen, wie unerlässlich ein „konstruktiver Dialog“ sei. Konstruktiv, so scheint es, bedeutet in der politischen Übersetzung schlicht: „Wir machen alles, was nötig ist, um im Spiel zu bleiben.“

Ein Fest der politischen Heuchelei

Dass die Öffentlichkeit diesem Manöver nicht gerade begeistert zujubelt, dürfte selbst für die Protagonisten wenig überraschend sein. Zu deutlich waren die Worte, zu heftig die gegenseitigen Angriffe, als dass man jetzt noch glaubhaft den Mantel der Harmonie überwerfen könnte. Aber vielleicht, so könnte man spekulieren, zählt am Ende nur eines: Macht. Die Geschichte hat schließlich gezeigt, dass Prinzipien in der Politik vor allem dann flexibel sind, wenn sie im Weg stehen.

Die ÖVP und FPÖ auf Schmusekurs – das ist wie ein Mordprozess, bei dem Ankläger und Angeklagter plötzlich gemeinsam zum Mittagessen gehen. Es ist grotesk, faszinierend und tief erschütternd zugleich. Vielleicht ist das die eigentliche Lektion dieses absurden Schauspiels: In der Politik ist nichts so heilig, dass es nicht verraten werden könnte – Hauptsache, die Belohnung ist groß genug. Und sollte diese Koalition tatsächlich Realität werden, bleibt uns zumindest der Trost: Wir werden uns niemals langweilen.

Please follow and like us:
Pin Share