
Wie Syrien die Welt zu Gewinnern macht
Wenn in Syrien die Machtverhältnisse verschoben werden, könnten wir genauso gut den Text eines absurden Theaterstücks vorlesen. Diesmal: Ein säkularer Diktator wird gegen islamistische Akteure ausgetauscht – ein Szenario, das wie eine Wiederholung einer immer gleichen Tragödie wirkt. Die Rollen sind bekannt, das Drehbuch alt: Die USA geben sich als Zaungäste aus, während sie ganz bequem auf syrischem Boden ihre „neutralen“ Pläne verfolgen. Europa schaut betreten zu und fragt sich, wo man die nächsten Flüchtlingsunterkünfte einrichten soll. Und die Türkei? Nun, die kann wieder mal die Karten mischen und sich das nehmen, was sie möchte. Ein Tag der Entscheidung, ein Triumph der Geopolitik. Oder, wie man es besser beschreiben könnte: Ein weiterer Meilenstein im großen Zynismus des 21. Jahrhunderts.
Ein säkularer Diktator geht, islamistische Freiheitskämpfer kommen
Wie romantisch, dass der Begriff „Demokratie“ in der internationalen Politik noch immer als magisches Allheilmittel verkauft wird – auch und gerade in Ländern, deren politische Traditionen diesen Begriff bestenfalls als Fremdwort kennen. Syrien steht nun, angeblich, vor einem demokratischen Neuanfang. Aber seien wir ehrlich: Demokratie in der Region bedeutet selten, was wir uns darunter vorstellen. Meist meint sie eine Mehrheitsentscheidung zugunsten islamistischer Parteien, die sich als Stimme des Volkes präsentieren.
Muslime wollen das so, wird man uns sagen. Und wer sind wir, ihnen ihren Willen abzusprechen? Es ist die alte Geschichte vom aufgezwungenen Selbstbestimmungsrecht, das unter der Ägide von Koranschulen, Milizen und Märtyrerverehrung blühen soll. Was dabei auf der Strecke bleibt, ist ein halbwegs stabiles Land, das nicht von der nächsten ideologischen Strömung mit Sprengstoffgürteln zerlegt wird.
Doch wer mag Assad? Niemand. Was ihn dennoch wertvoll machte, war seine Vorhersehbarkeit. In einer Welt, in der jede politische Gruppierung, die „Demokratie“ auf ihrem Banner trägt, wie ein Springteufel unkontrollierbar agiert, war Assad ein alter Bekannter: brutal, ja, aber kalkulierbar. Diese Verlässlichkeit weicht jetzt einem gefährlichen Schachbrett, auf dem niemand mehr weiß, welche Figur als nächstes fällt.
Von Nicht-Einmischung zur Besatzung mit Sternenbanner
Mit der Ankündigung, sich „nicht in die inneren Angelegenheiten Syriens einzumischen“, beweisen die USA erneut ihr Talent für diplomatische Ironie. Seit Jahren besetzen sie syrische Ölfelder im Osten des Landes, was man als einen ziemlich tiefgreifenden Eingriff in die inneren Angelegenheiten eines Staates bezeichnen könnte. Aber nein, Washington bleibt betont passiv, so passiv wie ein Elefant im Porzellanladen.
Es gibt eine alte Regel: Wenn ein Land wie Syrien Öl hat, sind die Amerikaner schon da, bevor überhaupt jemand „Geostrategie“ sagen kann. Und natürlich wird das Öl nicht zum Aufbau Syriens verwendet. Es wird schlicht exportiert – ein lukratives Geschäft, das sich unter dem Deckmantel der „Terrorismusbekämpfung“ abspielt. Doch die große Pointe ist, dass die USA ihre Rolle als moralische Supermacht nicht aufgeben. Man ist ja nur da, um Frieden zu schaffen und Stabilität zu fördern. Klar doch.
Die stille Gewinnerin
Ach, Recep Tayyip Erdoğan, der wahre Maestro des syrischen Konflikts. Während alle anderen ihre Zähne an der chaotischen Lage ausbeißen, hat er längst verstanden, wie man das Schachbrett für sich nutzt. Mit syrischen Flüchtlingen als politischer Waffe gegen Europa und einer klaren Agenda für die Kontrolle des Nordens hat die Türkei wieder einmal gezeigt, dass pragmatischer Opportunismus die wahre Stärke der Außenpolitik ist.
Was Erdoğan will, bekommt Erdoğan auch. Und der Norden Syriens? Ein Stück Land, das bequem als Pufferzone herhalten kann, gefüllt mit loyalen Kämpfern und unter türkischer Kontrolle. Die Welt mag sich über sein Vorgehen beschweren, doch solange er Europa mit der Aussicht auf Millionen weiterer Flüchtlinge im Nacken hält, werden sich die Proteste in Grenzen halten. Und so triumphiert der Sultan von Ankara erneut – leise, effektiv und völlig unbeeindruckt von westlicher Kritik.
Die moralische Müllhalde
Und was bleibt für Europa? Natürlich das Altbekannte: Flüchtlinge aufnehmen, mit den moralischen Konsequenzen leben und sich von den USA wie eine hilflose Kolonie behandeln lassen. Während Washington seine Hände in Unschuld wäscht und Ankara neue geopolitische Felder bestellt, bleibt der EU nichts anderes übrig, als die humanitären Folgen der Katastrophe zu tragen.
Jede neue Eskalation im Nahen Osten spült eine weitere Welle von Menschen nach Europa. Sie fliehen vor Bomben, Hunger und Chaos, und das ist ihr gutes Recht. Doch während die EU sich auf den humanitären Imperativ beruft, fehlt es an einer klaren Strategie. Wie lange kann man das Spiel „Wir schaffen das“ weiterspielen, bevor die sozialen und politischen Spannungen in den Mitgliedsstaaten explodieren? Die Antwort darauf bleibt aus, denn wie immer wird die EU nur reagieren, nie agieren.
Ein Meisterwerk der internationalen Zynik
Am Ende des Tages scheint alles perfekt orchestriert: Die Türkei erhält den Norden, die USA kontrollieren das Öl, und Europa bekommt die Menschen. Ein Arrangement, das so genial wie zynisch ist. Niemand spricht offen aus, was wirklich passiert, und doch verstehen alle Akteure ihre Rollen in diesem makabren Schauspiel.
Die Menschen in Syrien? Sie bleiben die großen Verlierer. Ihr Land wird weiterhin zerstückelt, ihre Zukunft bleibt unsicher, und ihre Stimmen bleiben ungehört. Die internationalen Akteure, die vorgeben, für Freiheit und Gerechtigkeit einzustehen, sind längst zu den treibenden Kräften eines Systems geworden, das nur eines kennt: den Eigennutz.
Der Tag, an dem alle gewinnen – außer Syrien
Was für ein Tag für die Menschheit, wirklich. Es ist ein Tag, an dem jede Macht ihren Teil des Kuchens bekommt, ein Tag, an dem die großen Nationen ihre Interessen durchsetzen können, ohne auch nur den Anschein von Verantwortung zu wahren. Und Syrien? Es bleibt der Ort, an dem die Ideale der Demokratie, der Freiheit und der Menschlichkeit wie hohle Phrasen klingen.
Vielleicht sollten wir uns weniger über die offensichtlichen Zynismen aufregen und stattdessen die bitteren Lektionen aus diesem Chaos ziehen: Die Welt wird nicht von Idealen regiert, sondern von Interessen. Und niemand zeigt uns das deutlicher als der tragische Scherbenhaufen namens Syrien.
Quellen und weiterführende Links
- UNHCR-Bericht zu syrischen Flüchtlingen: UN Refugee Agency
- Analysen zu Syrien und US-Strategien: Carnegie Middle East Center
- Die Türkei und ihre Rolle in Syrien: Middle East Eye
- Europa und die Flüchtlingskrise: European Council on Foreign Relations
- Hintergründe zur Ölförderung in Syrien: Al-Monitor