
Eine ignorierte Apokalypse
Es ist eine wiederkehrende Choreografie der Empörung, die Weltpolitik: Eine brennende Bühne hier, ein taumelnder Akteur dort. Köpfe werden gewendet, Arme ausgestreckt, Worte gesprochen. Doch irgendwo, jenseits der Frontseiten der Zeitungen und der Grenzen unserer Empathie, klafft ein Loch, in das Millionen Stimmen rufen – ungehört, bis die Stille dröhnend laut wird. Der Sudan ist dieses Loch, ein Land, dessen humanitäre Katastrophe so gewaltig ist, dass sie unsere Fähigkeit, Betroffenheit zu simulieren, sprengt. „Größer als Ukraine, Gaza und Somalia zusammen“, heißt es. Doch wer bemisst das Leid? Und warum wiegen manche Tränen schwerer als andere?
24 Millionen Schritte ins Nichts
Es sind Zahlen, die unsere Vorstellungskraft lähmen: 24 Millionen Menschen – fast die Hälfte der Bevölkerung – stehen am Abgrund, geplagt von Hunger, Krieg und Hoffnungslosigkeit. Aber wer zählt noch mit? In einer Welt, in der Skandale in Echtzeit gestreamt werden und Empathie auf Twitter begrenzt ist, scheinen diese 24 Millionen Seelen wie das Rauschen eines defekten Radios: Sie stören nur, bis wir die Frequenz wechseln.
Die Hungersnot, die im Sudan ausgerufen wurde, ist kein Zufall, sondern eine präzise geplante Operation der Vernachlässigung. Während Hilfsgelder fließen, um politische Symbole in anderen Krisenregionen zu wahren, sterben im Sudan Menschen in Stille. Der Countdown läuft, und er ist unerbittlich. Keine Tränenflut in sozialen Medien, keine Proteste vor Botschaften. Nur der Sudan selbst zählt die Sekunden – und bald werden keine mehr übrig sein.
Die Architektur der Verwüstung
Wenn ein Land brennt, brennen nicht nur Häuser. Es brennt die Zukunft, die Vergangenheit und jeder Hoffnungsschimmer dazwischen. Haus für Haus, Viertel für Viertel – im Sudan ist das keine Metapher. Ganze Städte wurden dem Erdboden gleichgemacht, geplündert, zerstört. Was bleibt, sind Ruinen und Erinnerungen. Und doch bleibt die Welt stumm, als ob die Schreie eines Hauses in Khartum leiser wären als die eines Wohnblocks in Gaza.
Warum? Vielleicht, weil der Sudan kein geopolitischer Spielball ist, keine Schachfigur in einem weltweiten Machtkampf. Hier gibt es keine Sanktionen zu umgehen, keine Pipelines zu sichern, keine medialen Siege zu erringen. Es gibt nur Menschen, die sterben. Und das ist in der großen Rechnung der Weltpolitik oft keine variable, sondern nur ein lästiges Ergebnis.
Ein Machtkampf als Spiegel unserer Schwächen
Abdel Fattah al-Burhan und Mohamed Hamdan Daglo – zwei Namen, die in Europa nur selten ausgesprochen werden, obwohl sie zwei der Hauptarchitekten des sudanesischen Albtraums sind. Sie kämpfen nicht um Ideologien, sondern um Macht, und der Sudan zahlt den Preis. Ethnische Vertreibungen in Darfur, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Massaker – das alles klingt wie die Schlagzeilen eines längst vergangenen Krieges. Doch dieser Krieg ist aktuell, so gegenwärtig wie die Luft, die wir atmen.
Die Frage ist: Warum interessiert es niemanden? Liegt es daran, dass wir die Grenzen unserer moralischen Belastbarkeit erreicht haben? Oder ist der Sudan schlichtweg zu komplex, zu chaotisch, zu „anders“, um uns in seinen Bann zu ziehen? Der blutige Machtkampf dort ist mehr als eine Tragödie; er ist ein Spiegel, der uns zeigt, wie selektiv unsere Empathie geworden ist.
Die Konsequenzen der Ignoranz
Es ist ein Szenario, das sich ankündigt wie ein Gewitter am Horizont, und doch schauen wir weg: Millionen Menschen könnten bald auf der Flucht sein, nicht nur innerhalb Afrikas, sondern Richtung Europa. Die Bilder von 2015 – überfüllte Boote, verzweifelte Gesichter – sind nicht verblasst, sie ruhen nur in einem kollektiven Gedächtnis, das jederzeit reaktiviert werden kann. Doch Europa schaut lieber auf seine eigenen Krisen und vergisst, dass die Welt nicht aufhört, sich zu drehen, nur weil wir es wollen.
Der Sudan ist nicht nur eine humanitäre Krise, er ist eine Mahnung. Ohne Perspektive für die Menschen dort wird die Welle der Verzweiflung unsere Küsten erreichen – und dann werden wir wieder so tun, als seien wir überrascht. Doch Überraschung ist keine Entschuldigung. Sie ist eine Wahl.
Der Preis des Schweigens
Die Tragödie des Sudan ist eine Tragödie der Menschheit, aber auch eine Tragödie der Prioritäten. Solange wir glauben, dass einige Leben mehr wert sind als andere, solange wir unsere Aufmerksamkeit nach Belieben zu- und abschalten, wird es Sudans geben. Mehr als einen. Mehr als zwei. Es ist an der Zeit, die Frequenz neu einzustellen und hinzuhören – bevor es endgültig zu spät ist.
Quellen und weiterführende Links